02.10.2023
Tempel oder Räuberhöhle? Die EU und die Flüchtlinge
So kennen wir ihn gar nicht: Jesus tobt durch den Tempel von Jerusalem.
Er wirft Tische und Bänke um, Münzen fliegen zu Boden, er treibt die Tiere auseinander und die Händler vor sich her. Tumult und Gezeter: „Was fällt dir ein!“ – „Was fällt euch ein“, erwidert er, „der Tempel soll ein Bethaus für alle Völker sein, aber ihr habt eine Räuberhöhle daraus gemacht.“ Ich mag diese Szene.
An den Außengrenzen der EU werden Flüchtlinge brutal zurückgetrieben. Sie werden von Polizeikräften geschlagen und um ihr weniges Hab und Gut gebracht, medizinische Hilfe wird verweigert. Kommen Flüchtlinge auf dem Seeweg, werden Boote zurückgeschleppt aufs Meer. Die EU paktiert mit Libyen. In den Lagern dort werden Frauen vergewaltigt und Männer als Sklaven verkauft. Nun hat sich die EU auch mit Tunesien verabredet, das zur selben Zeit Migrantinnen und Migranten in der Wüste aussetzt.
Die EU soll ein Tempel des Friedens sein. Gleich am Anfang der Europäischen Verträge ist der Mörtel erwähnt, mit dem er gebaut ist: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“.
Tempel oder Räuberhöhle? Die EU-Kommission weiß um die Menschenrechtsverletzungen. Aber sie stellt sie nicht ab. Ich stelle mir vor, wie Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen, dieses große Gebäude in Brüssel betreten, das mit den vielen Fahnen davor, Sitz der Europäischen Kommission. Ich stelle mir vor, wie sie sich vorarbeiten. Hier fällt ein Stuhl um, da ein Bild von der Wand, vielleicht platzen sie in eine Sitzung. „Was fällt euch ein!“ Sie erwidern nichts, legen nur Fotos auf die Schreibtische. Zu sehen ist ein Körper, malträtiert von Schlagstöcken. Eine an einen Strand gespülte Leiche. Eine erschöpfte Frau, ein Kind.
An die Wände hinter den Schreibtischen sprühen sie: Seht, es sind Menschen!
Jesus erwartet, dass wir für sie eintreten, ohne Wenn und Aber.