24.02.2023
Diakonie Katastrophenhilfe: Menschen in Ukraine wollen Alltag zurück | 68 Millionen Euro Spenden

Berlin (epd). Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine stellt Nothilfekoordinator Mario Göb von der Diakonie Katastrophenhilfe eine wachsende Verunsicherung bei den Menschen vor Ort fest.

Beeindruckend seien zwar nach wie vor Durchhaltewillen, Zusammenhalt und das Aufbäumen gegen die Situation, sagte Göb dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. Unter dieser Oberfläche sei aber zunehmend Sorge spürbar. „Die Menschen wollen ihren Alltag zurück. Das ist in weiten Landesteilen nicht gegeben, ein Ende des Krieges derzeit nicht absehbar“, fügte Göb hinzu.

Die Menschen in der Ukraine lebten weiterhin in großer Anspannung: „Bisher war auch keine Zeit, die traumatischen Geschehnisse aufzuarbeiten.“ Die Menschen realisierten immer mehr, dass ein Kriegsende nicht greifbar sei.

Nach Göbs Worten hat die Diakonie Katastrophenhilfe bisher 68 Millionen Euro an Spenden für die Ukraine eingenommen. Die Spendenbereitschaft sei nach wie vor groß, trotz zahlreicher weiterer humanitärer Krisen. Mit den Spenden sei das größte Hilfsprogramm in der Geschichte der Diakonie Katastrophenhilfe auf die Beine gestellt worden. Die drei größten Projekte umfassten Hilfspakete, Winterhilfe und Wärmestuben. Sie würden zusammen mit ukrainischen Partnern vor Ort umgesetzt, die direkten Zugang zu den Hilfsbedürftigen hätten.

Bei der Hilfe für ukrainische Geflüchtete in Deutschland dringt Göb auf „eine kluge Integrationspolitik“. Der Nothilfekoordinator betonte: „Je schneller Integration gelingt, desto mehr werden Kommunen und auch Sozialsysteme entlastet.“ Die Unterbringung von mehr als einer Million Menschen hierzulande sei eine enorme Herausforderung. „Dennoch ist die Hilfsbereitschaft nach wie vor beeindruckend groß, auch ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskrieges“, sagte Göb. Darauf könne das Land stolz sein.

Zugleich mahnte die Diakonie Katastrophenhilfe frühzeitige Überlegungen zum Wiederaufbau des Landes an. Nach einer ersten Einschätzung der ukrainischen Regierung müsse von Kosten von 750 oder 800 Milliarden Euro für den Wiederaufbau ausgegangen werden: „Ob das überhaupt reicht, wird intensiv diskutiert.“ Angesichts der jetzigen Lage sei unklar, wann der Wiederaufbau beginnen könnte. „Andererseits dürfen die Planungen nicht erst anfangen, wenn der Krieg vorbei ist“, mahnte Göb: „Wir müssen jetzt planen, um in einer guten Ausgangslage zu sein, wenn es so weit ist.“ Nötig dafür sei statt vielen einzelnen regionalen Initiativen eine europäische Plattform für den Wiederaufbau.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Verunsicherung und Durchhaltewillen

epd-Gespräch: Jens Büttner

Berlin (epd). Fast 68 Millionen Euro hat die Diakonie Katastrophenhilfe an Spenden für die Ukraine-Hilfe eingenommen. Im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) spricht Programmkoordinator Mario Göb ein Jahr nach Kriegsbeginn über die Stimmungslage bei den Menschen vor Ort, die Lieferung von Generatoren und einen späteren Wiederaufbau des Landes.

epd: Wie geht es den Menschen in der Ukraine ein Jahr nach Kriegsausbruch?

Mario Göb: Die Menschen sind nach wie vor sehr angespannt. Beeindruckend sind der Durchhaltewillen, der Zusammenhalt und das Aufbäumen gegen die Situation. Unter dieser Oberfläche ist aber zunehmend Verunsicherung und Sorge zu spüren. Ich muss oft an eine ältere Dame denken, die ich kürzlich im Norden des Landes traf. Ihr Haus ist zerstört, sie wohnt seit nahezu einem Jahr in ihrer ungeheizten Garage und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Die Menschen wollen ihren Alltag zurück. Das ist in weiten Landesteilen nicht gegeben, ein Ende des Krieges derzeit nicht absehbar. Natürlich ist die Lage regional sehr unterschiedlich. Der Konflikt im Osten mit Kampfhandlungen in unmittelbarer Nähe bringt eine ganz andere Situation mit sich als etwa in Kiew. Dennoch: Landesweit sind die Menschen noch immer im Ausnahmezustand. Bisher war auch keine Zeit, die traumatischen Geschehnisse aufzuarbeiten. Die Kraft der Menschen lässt nach meinem Eindruck ein wenig nach. Sie realisieren immer mehr, dass ein Kriegsende nicht greifbar ist.

epd: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den ukrainischen Partnern vor Ort?

Göb: Wir arbeiten vor allem mit Vostok SOS zusammen. Das ist eine zivilgesellschaftliche Organisation, die im Zuge der ersten Invasion 2014 im Osten der Ukraine entstanden ist, in der Donezk-Region. Ein kleiner Kreis von Personen hat sich damals wegen der Situation ihres Umfeldes, ihrer Familien, zusammengefunden. Wir arbeiten seit 2015 mit Vostok SOS zusammen, gefördert auch durch Mittel vom Auswärtigen Amt. Seitdem setzen wir gemeinsam humanitäre Projekte in der Ukraine um. Seit dem Angriff Russlands im vergangenen Jahr hat sich die Zusammenarbeit noch mal deutlich intensiviert. Die Organisation mit einem Kernteam von 20 Leuten und einem dichten, landesweiten Netzwerk von Freiwilligen hat ihren Sitz zwischenzeitlich aus dem Osten der Ukraine in den Westen verlegt. Der Fokus der Hilfe liegt aber weiter auf dem Osten des Landes. Der Austausch ist eng, das erfordert auch die dynamische Situation. Vostok SOS arbeitet seinerseits mit lokalen Partnern zusammen, die unmittelbar vor Ort Zugang zu den Hilfebedürftigen haben.

epd: Was sind die häufigsten Problemlagen, mit denen Vostok SOS konfrontiert wird?

Göb: Wir setzen zusammen drei große Projekte um: Hilfspakete, Winterhilfe und Wärmestuben. Hilfspakete mit Nahrungsmitteln und Hygieneartikeln werden an verschiedenen Stellen des Landes an Bedürftige verteilt. Die Winterhilfe umfasst die Lieferung von Generatoren, Akkus, Kleidung, Bettzeug, Elektroheizungen und Öfen. Es gibt in der Ukraine rund 5,4 Millionen Menschen, die intern im Land aufgenommen werden müssen, etwa in Geflüchtetenunterkünften. Auch die müssen versorgt werden. Bei den Wärmestuben geht es wie bei ähnlichen Projekten hierzulande um Zelte zum Aufwärmen, in denen dann auch soziale Kontakte stattfinden und weitere Hilfe angeboten werden kann, etwa psychosoziale Unterstützung. Ebenso unterstützen wir inzwischen Evakuierungen von Menschen aus den kürzlich befreiten Gebieten, in denen die Infrastruktur zusammengebrochen ist.

epd: Wie hat sich das Spendenaufkommen entwickelt?

Göb: Wir sind sehr dankbar, dass wir fast 68 Millionen Euro Spenden für die Ukraine eingenommen haben und dadurch innerhalb des ersten Halbjahres 2022 das größte Hilfsprogramm unserer Geschichte auf die Beine stellen konnten. Wir haben 643.000 Menschen mit 30 Hilfsprojekten unterschiedlicher Größe erreicht. Dafür arbeiten wir mit 21 Partnerorganisationen und Netzwerken in zwölf Ländern zusammen, insbesondere in den Nachbarstaaten der Ukraine, aber auch hier in Deutschland. Alles in allem ist das ein riesiges Programm. Natürlich hängt die Spendenbereitschaft der Menschen immer an medialer Aufmerksamkeit, an der Konkurrenz mit anderen humanitären Katastrophen. In diesem Jahr werden voraussichtlich weltweit mehr Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sein als jemals zuvor, aktuell kommen die vielen Erdbebenopfer in der Türkei und in Syrien dazu. Dennoch haben wir nach wie vor vergleichsweise starke Spendeneinnahmen, vermutlich auch wegen der geografischen Nähe zur Ukraine. Dies ist auch wichtig, denn die humanitären Bedarfe im Land sind mit knapp 18 Millionen vulnerablen Menschen nach wie vor extrem hoch.

epd: Was sind die drängendsten Probleme bei der Hilfe für die ukrainischen Flüchtlinge hier in Deutschland?

Göb: Es gibt inzwischen ein Gefühl der Überforderung an verschiedenen Stellen, etwa bei den Kommunen. Natürlich ist die Unterbringung von mehr als einer Million Menschen in Deutschland eine enorme Herausforderung. Wenn man von der anderen Seite schaut, stellt sich die Lage vielfach noch dramatischer dar: In der Ukraine sind Helferinnen und Helfer an der Grenze zur Überforderung. Dennoch ist die Hilfsbereitschaft nach wie vor beeindruckend groß, auch ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskrieges. Es gibt ein riesengroßes Engagement von vielen Freiwilligen. Darauf kann unser Land stolz sein. Aber natürlich ist die Aufrechterhaltung dieser Unterstützung nach nunmehr zwölf Monaten eine Herausforderung. Je schneller Integration gelingt, desto mehr werden Kommunen und auch Sozialsysteme entlastet. Wir brauchen eine kluge Integrationspolitik.

epd: Wird in Deutschland ein Jahr nach Kriegsbeginn zu viel über Waffengattungen und zu wenig über die humanitäre Katastrophe in der Ukraine gesprochen?

Göb: Dass diese Debatte über Waffenlieferungen geführt wird, ist verständlich. Wir sind allerdings ein humanitärer Akteur. Wir kümmern uns um die Menschen, die am bedürftigsten sind. Was den Umfang der Debatte über Waffenlieferungen angeht, ist das zuweilen ein wenig unheimlich. Es ist schwer zu verstehen, wie stark der mediale Fokus auf dieser Frage liegt. Das führt zwangsläufig dazu, dass andere Themen hinten runterfallen. Das ist sehr schade für die Menschen, die dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Humanitäre Themen sind nach wie vor drängend, nicht nur die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine.

epd: Diplomatie, Waffenlieferungen, humanitäre Hilfe - was ist jetzt am wichtigsten?

Göb: Für uns als humanitärer Akteur steht natürlich diese Hilfe an erster Stelle. Wenn Sie die ältere Dame fragen, die kürzlich aus einem zurückeroberten Gebiet evakuiert wurde und jetzt in einem Heim lebt, wird sie auf die humanitäre Hilfe verweisen, die ihr das Weiterleben überhaupt erst ermöglicht hat. Unsere Hilfe konzentriert sich auf die Menschen in Not. Das ist für uns das entscheidende Thema. Die anderen Bereiche sind wichtig, keine Frage. Da ringen wir insgesamt als Gesellschaft um Antworten.

epd: Dieser Tage fand eine Wiederaufbaumesse in Warschau statt. Was kann und was muss Deutschland hier perspektivisch leisten?

Göb: Eine erste Einschätzung der ukrainischen Regierung geht von 750 oder 800 Milliarden Euro für den Wiederaufbau aus. Ob das überhaupt reicht, wird intensiv diskutiert. Angesichts der jetzigen Lage ist unklar, wann der Wiederaufbau beginnen könnte. Andererseits dürfen die Planungen nicht erst anfangen, wenn der Krieg vorbei ist. Wir müssen jetzt planen, um in einer guten Ausgangslage zu sein, wenn es so weit ist. Leider gibt es bisher vor allem regionale Initiativen, auch hier in Deutschland. Was wir bräuchten, wäre eine europäische Plattform für den Wiederaufbau.

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