22.08.2022
Präses Annette Kurschus: Ökumene-Gipfel soll Friedensimpuls in Ukraine senden
Bielefeld/Hannover (epd). Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, erhofft sich von der bevorstehenden Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe wichtige Weichenstellungen, etwa auch beim Thema Klimagerechtigkeit.
Sie sei zuversichtlich, „dass von Karlsruhe eine Art Weckruf ausgehen wird“, sagte die westfälische Präses dem Evangelischen Pressedienst (epd) im Interview. Das höchste Gremium des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) tagt vom 31. August bis 8. September in Karlsruhe. Erstmals in der über 70-jährigen Geschichte des ÖRK findet die Vollversammlung in Deutschland statt.
Mit welchen Gefühlen schauen Sie auf den Welt-Ökumene-Gipfel in Karlsruhe?
Annette Kurschus: Die Vollversammlung des ÖRK findet zum ersten Mal in Deutschland statt. Menschen aus der ganzen Welt sind bei uns zu Gast. So ein Ereignis ist gerade in dieser Zeit eine großartige Chance. Ich bin wirklich positiv gespannt, was das werden mag.
Wird die Vollversammlung zu mehr Einheit unter den Christen beitragen?
Kurschus: Es sind weniger die dogmatischen, also die im tiefsten Sinne im Glauben verwurzelten Fragen, die Uneinigkeit bringen. Die Kontroversen entstehen vielmehr da, wo es um ethische und moralische Fragen geht. Der Ökumenische Rat der Kirchen lebt von der Unterschiedlichkeit, das ist seine Grundidee. Er besteht aus mehr als 350 Kirchen mit ihren jeweiligen kulturellen, politischen und konfessionellen Hintergründen. Die Vollversammlung wird die Einheit gerade dadurch stärken, dass sie unterschiedliche Perspektiven aushält und ein Forum bietet, diese auch auszutragen.
Das heißt konkret?
Kurschus: Einheit gibt es nicht nur dann, wenn wir alle einer Meinung sind und wenn wir alle dieselbe Position vertreten. Ökumenische Einheit ist gerade darin stark, dass sie Unterschiede zulässt und keine falsche Harmonie erzwingt. Damit ist keine Beliebigkeit gemeint. Es wird auf der Vollversammlung sicher auch kontrovers zugehen und gestritten werden.
Wird das Thema Klimagerechtigkeit auf der Karlsruher Tagung eine Rolle spielen?
Kurschus: Wo, wenn nicht dort? Dieses Thema muss aus meiner Sicht sogar vorrangig behandelt werden. Die Herausforderungen, die sich damit verbinden, können wir nur gemeinsam angehen. Wir sind alle betroffen, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Die am wenigsten zur Katastrophe beitragen, leiden derzeit am stärksten unter den Folgen. Die Vollversammlung wird die Gelegenheit bieten, dazu intensiv in den Austausch zu treten. Das Thema der Klimagerechtigkeit betrifft den Kern unseres Glaubens.
Christen aus dem globalen Süden beklagen die Folgen des Kolonialismus der westlichen Welt. Ist hier Streit auf der Vollversammlung programmiert?
Kurschus: Es ist wichtig, dass wir uns den kritischen Fragen stellen. Bis heute leiden viele Länder insbesondere in Afrika an ihrer wirtschaftlichen Schwäche. Zu weiten Teilen ist das ein Erbe europäischer Fremdherrschaft. Auch dieses Thema darf auf der Vollversammlung nicht tabuisiert werden - insbesondere jetzt, da wir uns mitten in Europa treffen.
Können die Kirchen der Welt bei Themen wie Klimawandel oder soziale Gerechtigkeit überhaupt Einfluss auf ihre Regierungen nehmen?
Kurschus: Die Delegationen, die zur Vollversammlung entsandt werden, stehen auch im engen Kontakt mit ihren jeweiligen Regierungen. Ihre Stimme wird gehört. Ich bin daher zuversichtlich, dass von der kirchlichen Versammlung in Karlsruhe eine Art Weckruf in die weltweite Politik ausgehen wird.
Was halten Sie von der Teilnahme der russisch-orthodoxen Delegation?
Kurschus: Die russisch-orthodoxe Kirche ist Mitglied im ÖRK. Ich bin froh, dass eine russisch-orthodoxe Delegation an der Vollversammlung teilnehmen wird. Selbst wenn die Verständigung zurzeit schwierig ist, müssen wir die Wege der Kommunikation unbedingt offenhalten. Wie die Delegation der russisch-orthodoxen Kirche zusammengesetzt ist, können wir nicht beeinflussen. Aber wir hoffen sehr, dass Menschen dabei sind, die der russischen Kriegsführung kritisch gegenüberstehen, die also nicht die Haltung des Moskauer Patriarchen Kyrill vertreten. Übrigens freue ich mich ebenso sehr, dass inzwischen auch die Teilnahme einer Delegation aus der Ukraine gesichert ist. Gerade weil hier zurzeit ein kriegerischer Konflikt schwelt, ist ein Zusammentreffen so wichtig. Ich erhoffe mir, dass auf kirchlicher Ebene eine Kommunikation möglich wird, die auch politisch etwas austrägt.
Kritiker werfen dem Rat vor, einseitig für die Palästinenser Partei zu ergreifen. Welche Rolle wird der Nahost-Konflikt in Karlsruhe spielen?
Kurschus: Ich gehe davon aus, dass insbesondere von den Kirchen Südafrikas deutliche Signale kommen werden, Israel zum Apartheid-Staat zu erklären. Doch ich bin ganz zuversichtlich, dass der Ökumenische Rat der Kirchen bei seiner Grundhaltung bleiben wird. Er hat auf seiner ersten Vollversammlung 1948 in Amsterdam jede Form von Antisemitismus grundsätzlich zurückgewiesen als sündhafte Rebellion gegen Gott und die Menschen. Das ist ein Bekenntnis. Zugleich können wir nicht ausblenden, dass es massive Völkerrechtsverletzungen auf israelischer Seite gegenüber Palästina gibt. Was palästinensischen Menschen angetan wird, lässt sich nicht leugnen. Es gibt deshalb seitens des ÖRK eine doppelte Verbundenheit: mit Israel und mit Palästina. Diese Grundlinie steht aus meiner Sicht nicht infrage. Der ÖRK hört im Konfliktfall zuallererst auf die Stimmen der Mitgliedskirchen, die unmittelbar betroffen sind. Das wird auch hier geschehen: Wir werden auf die kirchlichen Stimmen aus Israel und Palästina hören.
Wird der ÖRK in Karlsruhe seine Position zum Nahost-Konflikt klären?
Kurschus: Wir als Evangelische Kirche in Deutschland sind nur ein kleiner Teil des ÖRK, nämlich eine von 352 Mitgliedskirchen. Wir haben aufgrund unserer Geschichte eine sehr spezielle Rolle in dieser Frage, die sich nicht für den gesamten Weltrat verallgemeinern lässt. Gerade weil wir bei dieser Vollversammlung die Gastgebenden sind, müssen wir überaus feinfühlig mit diesem hochsensiblen Thema umgehen. Dass Deutschland seinerseits im Jahr 1948 in den ÖRK aufgenommen wurde, halte ich für alles andere als selbstverständlich. Es steht uns gut an, die Dankbarkeit dafür nicht zu vergessen und sie in einer angemessenen Demut zu zeigen.
Ist zu befürchten, dass es auf der ÖRK-Vollversammlung in Karlsruhe zu antisemitischen Vorfällen kommen wird, wie etwa jüngst bei der documenta fifteen in Kassel?
Kurschus: Ausschließen lässt sich nichts - aber ich hoffe sehr, dass es hier eine hohe Sensibilität gibt, die es soweit nicht kommen lässt.
Bei den Themen Homosexualität oder Gleichberechtigung von Frauen in kirchlichen Hierarchien gibt es in den Kirchen der Welt unterschiedliche Positionen, von konservativ bis liberal. Wie wird man in Karlsruhe damit umgehen?
Kurschus: Sowohl im Blick auf Homosexualität als auch im Thema der Frauenordination sind wir als gastgebende Kirche den meisten anderen Mitgliedskirchen voraus. Gerade deshalb sind wir gut beraten, wenn wir unsere Position nicht als die allein „richtige“ hinstellen. Zugleich hoffe ich, dass der Weltrat auch in diesen Fragen ein Stück weiterkommt.
Was kann der besondere deutsche Beitrag zur Vollversammlung sein?
Kurschus: Wir sind ein Land, das zur Gründungszeit des ÖRK wirklich alle Bedingungen erfüllt hätte, von einer kirchlichen Weltversammlung ausgeschlossen zu werden. Dennoch wurden wir damals in der weltweiten ökumenischen Familie aufgenommen. Davon können wir jetzt etwas zurückgeben. Wir öffnen unsere Türen für Menschen aus Ländern, deren Politik wir im Moment nicht nur nicht verstehen, sondern tatsächlich verurteilen. Dass wir dennoch und jetzt erst recht miteinander im Gespräch bleiben, halte ich für eine besondere deutsche Verantwortung.
Was ist für Sie noch besonders wichtig bei dieser ÖRK-Vollversammlung?
Kurschus: In der Öffentlichkeit ist vielleicht gar nicht so deutlich, dass sich bei der Vollversammlung nicht nur die geistlichen Führungskräfte treffen. Da kommt wirklich die ganze bunte Kirchenwelt zusammen. Zum ersten Mal in Deutschland! Was wir in diesem Jahr in Karlsruhe erleben werden, ist ein historisches Ereignis.
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