02.06.2020
"Botschaft von der Zuwendung und Liebe Gottes weitersagen": Antwort von Regionalbischöfin Spengler auf Kirchenkritik in der "ZEIT"

In ihrem Artikel "Frommes Schweigen" wirft die Autorin Evelyn Finger den Kirchen "Sprachlosigkeit" während der Corona-Pandemie vor. Die Regionalbischöfin für den Propstsprengel Gera-Weimar, Friederike Spengler, hat darauf in einem Leserbrief an die "ZEIT" geantwortet.

Sehr geehrte Frau Finger,

„Wo waren die Bischöfe…?“, fragen Sie und titeln „Frommes Schweigen“. Nun kann und will ich gar nicht sagen, wo „die“ Bischöfe waren, schließlich sind wir eine ganze Anzahl für alle Landeskirchen und Bistümer in Deutschland. Antworten möchte ich Ihnen nur, wo ich war, eine von denen, die hier angefragt werden: eine Bischöfin. Ich bin seit einem Jahr Regionalbischöfin in Ostthüringen. Acht Kirchenkreise gehören zu meiner Propstei.

Die erste Woche der Beschränkungen war angefüllt mit enormer Betriebsamkeit. So Vieles war zu kommunizieren. Denn das, was der gesamten Gesellschaft an Veränderungen aufgegeben war, betraf natürlich auch die Kirche(n). Mein Kalender ist normalerweise mit vielen Terminen „vor Ort“ bestückt, ich fahre in der Woche ca. 1000 km, um als Seelsorgerin die Pfarrerinnen und Pfarrer, Mitarbeiter im gemeindepädagogischen und kirchenmusikalischen Bereich zu besuchen, Veranstaltungen in Gemeinden durchzuführen, Andachten und Gottesdienste zu feiern und natürlich stehen Sitzungen in verschiedensten Zusammenhängen von Leitung an… „Vor-Ort-Termine“ mussten in Anrufe, in Telefon-, vor allem aber in Videokonferenzen umgestaltet werden. An Entscheidungen von Leitungsgremien hängen ja immer nachfolgende Entscheidungen für Einzelne. Da kann man nicht einfach alles ausfallen lassen. Wie in vielen anderen Bereichen war Homeoffice angesagt, auch deshalb, um nicht Mitarbeitende zu gefährden. Wir Mitglieder der Kirchenleitung bildeten auch den „Krisenstab der Landeskirche“, auch hier arbeiteten ein Regionalbischof und der Landesbischof federführend mit. Der Krisenstab stand mit dem Land in ständigem Austausch über die Umsetzung dessen, was angeordnet wurde. Vorschriften mussten für das Leben der Gemeinden anwendbar übersetzt werden. Wöchentlich gab es Sitzungen und anschließend die Rundverfügungen an alle, die Verantwortung für das kirchliche Leben tragen. Ganz besonders in Sachen „Seelsorge in Krankenhäusern und Pflegeheimen“ waren wir dabei mit den staatlichen Stellen im Gespräch und boten immer wieder an, uns für die zu verwenden, denen der Zutritt zu alten und sterbenden Menschen verweigert wurde.

Dass die Kirchen als Gebäude offenblieben, das war mir ein besonderes Anliegen. Nicht nur in dieser Zeit, eigentlich immer, aber besonders jetzt. Für die Kirche in meinem Wohnort – einer Kleinstadt mit mehreren Kliniken – übernahm ich diesen Dienst: jeden Morgen und Abend Klinkenputzen mit Desinfektionsmittel, auf- und zuschließen, Aushänge fertigen, Andachtsformulare auslegen, Kerzen bereitstellen. Wenn abends 18 Uhr die Glocken läuteten, sang ich bis Ostern jeden Tag auf dem Kirchturm Abendlieder über der Stadt. Die Menschen, die in der Innenstadt wohnten, waren informiert. So konnten Sie um diese Zeit auf den Balkon oder ans Fenster treten und hörten dem Abendsegen zu. Mein Mann spielte Trompete. Die 20 Minuten jeden Abend waren auch für mich ein Geschenk: Innehalten und singend beten.

Jeden Sonntag in dieser Zeit, in der die Gottesdienste verboten waren, stand ich 10 Uhr am Altar der geöffneten Kirche und zündete die Kerzen an. Eine Handvoll Leute im weiten Kirchenschiff. Besonders Patienten aus der Reha kamen und wollten, dass für sie gebetet würde. Ganz normaler Pfarrdienst also: Lesung aus der Bibel und Gebet. Und die segnen, die darum baten. Kerzen wurden entzündet und Stadt und Land mit der Bitte an Gott verbunden. Mit viel äußerlichem Abstand, aber mit großer innerlicher Nähe habe ich diese Zeit erlebt: bei Anrufen und schriftlichen Nachfragen, unzähligen Mails und den wunderbaren Aktionen, die durch Menschen im Ehren- und Hauptamt unserer Kirche angestiftet, unterstützt oder selbst durchgeführt wurden. Für die Sonntage nahm ich  - im Wechsel mit einem anderen Pfarrer – die Gottesdienste digital auf. Hatten alte Menschen kein Internet, bekamen sie alles auf CD in die Briefkästen geliefert. Andachten im Briefformat, Grüße an die Haustür, kleine Videos über Handys mit Bildern. Musik am offenen Fenster für die ganze Straße… In der Karwoche jeden Tag eine Andacht schriftlich und digital, den Ostergottesdienst über das regionale Fernsehen. Ein besonders Erlebnis die Osternacht am 11.04.2020: In dem Ort, in dem für die Region hier seit Jahren dazu ein besonderer Gottesdienst stattfindet, bauten wir vor der Kirche eine Übertragungsanlage auf. Die Häuser stehen hier alle um die Kirche herum, idealer Ausgangspunkt also. Bewohner waren über ihre Briefkästen informiert und fanden Liedblätter darin. Jeder und jede konnte dabei sein -  im eigenen Garten, am Fenster oder auf der Terrasse. Männer der Freiwilligen Feuerwehr ordnete im Dunkel des Abends ankommende Autos und achtete darauf, dass das Hygienekonzept eingehalten wurde. Ich stand mit Mikrofon vor der Kirche und sprach und sang die Liturgie. Der Bürgermeister spielte vom Kirchturm mit der Trompete „Christ ist erstanden!“ und eine Kirchenälteste läutete die Glocken zum Ostergeläut. Nach Kurzpredigt und Entzünden einer Feuerschale anstelle der Osterkerze hörte ich von überall ringsherum Jubel, Klatschen und freudige Rufe. Mein Abschlusssegen wurde beantwortet und am nächsten Tag quoll das Postfach über. So viele hatten genau das gehört, was sie jetzt brauchten: Zuspruch.

Auch in Rundschreiben wendete sich der Bischofskonvent unserer Kirche an alle Gemeinden. Wir versuchten eine erste vorsichtige Deutung der Krise und als am Sonntag Jubilate wieder Gottesdienste unter Auflagen stattfinden durften, gab es ein schriftliches Wort zum Verlesen in den Kirchen. Ja, es gab auch Protest und die Aufforderung, dass sich Kirche gegen die Einschränkungen, Gottesdienste zu halten und Abendmahl zu feiern, wehren müsse. Darüber, ob hier das Recht der freien Religionsausübung beschnitten wurde, kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich jedenfalls bin nach vielen Gesprächen zu der Einschätzung gelangt, dass es – unter strenger Abwägung der Verhältnismäßigkeit – in Ausnahmefällen solche Einschränkungen geben kann. Vor allem dann, wenn Leben und Gesundheit vieler auf dem Spiel stehen und Entscheidungen die Rechte der Schwächsten schützen müssen. So hatte selbst der Thüringer Hospiz- und Palliativverband dringend darum gebeten, dass Seelsorgende, die sonst die Einrichtungen und Stationen regelmäßig mit ihren Diensten besuchen, diese nicht von sich aus betreten, sondern zunächst alle Möglichkeiten digitaler Kommunikation ausgenutzt werden sollen. Ziel war es, auch weiterhin Patienten aufnehmen zu können. Das wäre bei positiver Testung in einem Hospiz nicht mehr möglich gewesen. Selbst Hospizlerin, ist mir dieser Aufruf an die Pfarrerinnen und Pfarrer besonders schwergefallen. Aber, ich habe das Pflegepersonal verstanden. Auch hier haben diese indes Großartiges geleistet. Sie verbanden über Tabletts Menschen, die Seelsorge wünschten, mit diesen per Video. Fraglos: Digital kann analog nicht ersetzen. Aber wer sind wir denn, dass wir uns über die Bitte der Einrichtungen, die Bewohner zu schützen, hinwegsetzen?

Die Seelsorgenden in Kliniken und Heimen standen mit mir per Mail im Austausch über die Entwicklungen. Sie konnten sich jederzeit melden, wenn kirchenleitend Unterstützung für die Ausübung ihres Dienstes gewünscht wurde. So wusste ich aus allen Bereichen, wie dort gerade gearbeitet werden konnte - per Telefon und Skype, analog mit Schutzkleidung oder auch ganz anders, mit Fantasie und Beharrlichkeit: z.B. mit regelmäßigen Andachten von der Wiese vor einem Pflegeheim aus. Der Pfarrer sprach über Verstärkeranlage und die Patienten saßen in Jacke und Mantel am Fenster; oder Wäschekörbe voll mit schriftlichen Grüßen, damit alte Menschen in diesen Wochen regelmäßig Post erhielten. Eine Kollegin im bischöflichen Dienst steht seit März regelmäßig 19 Uhr vor einem Pflegeheim der Stadt und spielt mit ihrer Trompete Choräle. Inzwischen warten die Bewohnerinnen und Bewohner bereits eine halbe Stunde vor Beginn auf sie…

Das alles ersetzt keine einzige menschliche Begegnung. Das ist mir, das ist wohl allen bewusst, die im kirchlichen Dienst stehen. Was hier an Not entstanden ist, wird sicher erst im Rückblick sichtbar. Eine besondere Last lag zusätzlich auf den Pflegenden, die nun auch noch übernehmen mussten, was sonst Besuchende mit ihrem Dasein an sozialer Interaktion tun. Und dabei haben Schwestern und Pfleger haben schon für die rein pflegerischen Aufgaben zu wenig Zeit. Aber, wissen Sie, liebe Frau Finger, es war und ist mir dennoch nicht nachvollziehbar, was jetzt lautstark an Kritik hochkommt. Kirche hatte in diesen besonderen Zeiten keine andere Aufgabe, als sonst auch: Den Menschen die Botschaft von der Zuwendung und Liebe Gottes weiterzusagen. Und zu beten: Für die, die Angst haben um sich und um andere, für die Einsamen, für das Pflegepersonal, für alle, die Verantwortung tragen und Entscheidungen treffen müssen für… Das aber haben wir, soweit ich das für mein Umfeld erkennen kann, mit großem Engagement getan. Sicher, Sie haben es in Ihrem Artikel erwähnt: Die Frage nach der Systemrelevanz beschäftigt so manchen. Ich hoffe ja, dass das Wort zum „Unwort des Jahres 2020“ gekürt wird. Es treibt einen Keil in unsere Gesellschaft, die jetzt ganz andere Aufgaben zu bewältigen hat, als sich um Relevanz einzelner Berufsgruppen und Organisationen zu streiten. Im Blick auf Kirche meine ich: Ob Kirche systemrelevant ist, darüber lässt sich streiten. Viel wichtiger aber ist doch, dass die Botschaft der Kirche systemrelevant ist! Und für diese will ich einstehen. Auch als Pfarrerin im bischöflichen Amt.

Bleiben Sie behütet!

Shalom, Dr. Friederike F. Spengler, Regionalbischöfin in der EKM

 

Hier der Link zum Artikel in der "ZEIT": https://www.zeit.de/2020/23/kirche-corona-krise-seelsorge-gottesdienstverbote-bischoefe


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