26.02.2020
Bundesverfassungsgericht kippt Sterbehilfe-Gesetz | Landesbischof Kramer: "Verschiebung in unserem Wertesystem"
Der Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, hat mit Sorge auf das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur "geschäftsmäßigen Sterbehilfe" reagiert. Das Gericht hatte heute Vormittag den Paragrafen 217 für verfassungswidrig erklärt.
Es gebe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Das schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei Angebote von Dritten in Anspruch zu nehmen.
Landesbischof Friedrich Kramer:
"Nach unserem christlichen Verständnis ist das Leben ein unverfügbares Gut, das uns nicht wirklich gehört. Es verdient den höchsten Schutz. Mit dem heutigen Urteil des BVerfG befürchte ich deshalb eine Verschiebung in unserem Wertesystem. Das Urteil öffnet die Tür dafür, dass die Selbsttötung als normale Option für schwerkranke Menschen angesehen wird. Das kann zur Folge haben, dass sich todkranke Menschen zu dieser Möglichkeit gedrängt fühlen. Ich hätte erwartet, dass die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung weiter verboten bleibt. Um todkranke Menschen in ihrem Sterbeprozess zu begleiten, ist vielmehr der weitere Ausbau der hospizlichen und palliativen Bereiche notwendig."
Auch der EKD-Ratsvorsitzende, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, und der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, drücken nach dem Urteil ihre Befürchtungen in einer gemeinsamen Erklärung aus:
„Mit großer Sorge haben wir zur Kenntnis genommen, dass das Bundesverfassungsgericht am heutigen Tag (26. Februar 2020) das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) aufgehoben hat. Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar. Wir befürchten, dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen kann, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen. Je selbstverständlicher und zugänglicher Optionen der Hilfe zur Selbsttötung nämlich werden, desto größer ist die Gefahr, dass sich Menschen in einer extrem belastenden Lebenssituation innerlich oder äußerlich unter Druck gesetzt sehen, von einer derartigen Option Gebrauch zu machen und ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten.
Wir haben die sehr verantwortliche gesellschaftliche und politische Debatte zum assistierten Suizid, die über mehrere Jahre und auf vielen Ebenen geführt wurde, aktiv begleitet. Den Kompromiss, den schließlich eine breite politische Mehrheit über alle Fraktionen des Deutschen Bundestages hinweg gefunden hat, haben wir als maßvolle Regelung empfunden, die die Selbstbestimmung besonders verletzlicher Menschen in ihrer letzten Lebensphase schützen sollte. Die Einbettung dieser gesetzlichen Maßnahme in den Kontext einer deutlichen Verbesserung der palliativen und hospizlichen Versorgung überzeugt uns nach wie vor.
An der Weise des Umgangs mit Krankheit und Tod entscheiden sich grundlegende Fragen unseres Menschseins und des ethischen Fundaments unserer Gesellschaft. Die Würde und der Wert eines Menschen dürfen sich nicht nach seiner Leistungsfähigkeit, seinem Nutzen für andere, seiner Gesundheit oder seinem Alter bemessen. Sie sind – davon sind wir überzeugt - Ausdruck davon, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat und ihn bejaht und dass der Mensch sein Leben vor Gott verantwortet. Die Qualität einer Gesellschaft zeigt sich gerade in der Art und Weise, wie wir einander Hilfe und Unterstützung sind. Daher setzen wir unsere Bemühungen fort, Menschen in besonders vulnerablen Situationen Fürsorge und Begleitung anzubieten. Neben den bereits bestehenden und weiter auszubauenden Angeboten palliativer und hospizlicher Versorgung gehört dazu auch zunehmend die Frage, wie wir Menschen, die einsam sind, Hilfe anbieten und sie seelsorglich begleiten können. So wollen und werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass organisierte Angebote der Selbsttötung in unserem Land nicht zur akzeptierten Normalität werden.“
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie: "Folgen nicht abschätzbar"
"Beihilfe zum Suizid darf keine Alternative zu einer aufwändigen Sterbebegleitung sein. Ich befürchte, dass diese Entscheidung nun eine Dynamik mit möglichen Konsequenzen nach sich zieht, deren Folgen nicht abschätzbar sind. In einer immer älter werdenden Gesellschaft steigt der finanzielle Druck auf den Gesundheitssektor ebenso wie der soziale Druck auf die kranken Menschen. Sie dürfen angesichts ihres Leidens keinesfalls als Last für die Gesellschaft abgestempelt und gedrängt werden, auf medizinische Maßnahmen zu verzichten, weil sie denken, dass ihre Behandlung zu teuer für die Angehörigen wird oder sie selber in höchster Not keinen Ausweg mehr wissen. Hochaltrige Pflegebedürftige sind in ganz besonderem Maße darauf angewiesen, dass sie sich auch am Lebensende gut versorgt und beraten wissen. Diese Entscheidung aus Karlsruhe kann nun dazu beitragen, dass diese Menschen verunsichert werden, weil vielleicht nicht alle Hilfen zur Verfügung stehen, die sie benötigen. Ich habe erlebt, was Palliativmedizin kann. Wir müssen nun mit allen Kräften dafür sorgen, dass Sterbehilfe nicht ein furchtbares Instrument der Marktgesellschaft wird."