04.10.2024
Fünf Jahre nach Synagogen-Anschlag: Privorozki beklagt Antisemitismus

Halle (epd). Fünf Jahre nach dem Terroranschlag auf die Synagoge in Halle beklagt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, einen anhaltenden Antisemitismus in Deutschland. 

Nach dem „Pogrom“ der Hamas gegen Israel vor einem Jahr habe die jüdische Gemeinschaft eigentlich Empathie und Anteilnahme erwartet, sagte Privorozki im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Aber offenbar macht es einen Unterschied, ob ein Anschlag von einem Neonazi oder von der Hamas ausgeht“, sagte der Vorsitzende des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt.

Auch in Halle gebe es - wie in anderen deutschen Städten - antisemitische Demonstrationen gegen Israels militärisches Vorgehen im Gazastreifen. „Aber die Opfer in Gaza sind ebenfalls Opfer der Hamas“, betonte Privorozki. Die Terroristen versteckten sich hinter Zivilpersonen, darunter auch Kinder: „Diese Anfeindungen, die wir jetzt erleben, das ist Antisemitismus, der sich hinter der Forderung nach Frieden im Nahen Osten maskiert.“

Am 9. Oktober 2019, dem jüdischen Feiertag Jom Kippur, hatte der Rechtsterrorist Stephan B. einen Anschlag auf die Synagoge in Halle verübt und dabei eine 40-jährige Frau vor dem Gotteshaus und einen 20 Jahre alten Mann an einem benachbarten Imbiss getötet. Zwei weitere Menschen verletzte er schwer. Sein Versuch, in die Synagoge einzudringen, scheiterte an der Tür.

Das Oberlandesgericht Naumburg verurteilte B. im Dezember 2020 zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. Im Januar dieses Jahres wurde der Täter erneut verurteilt, nachdem er bei einem Fluchtversuch aus der Justizvollzugsanstalt Burg zwei Geiseln genommen hatte.

Der Angriff auf die Hallenser Synagoge präge die Gemeinde bis heute, sagte Privorozki. Die Gemeinde sei in Gedanken bei den beiden Opfern. Jedes Jahr spreche man an Jom Kippur ein besonderes Gebet für sie.

Zum fünften Jahrestag des Anschlags am kommenden Mittwoch werden auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) zu einer Gedenkfeier in Halle erwartet. Privorozki rief die Politik auf, Antisemitismus unabhängig von solchen Jahrestagen permanent zu bekämpfen.

Eine Bedrohung für jüdisches Leben gehe sowohl von Migranten aus islamischen Ländern wie von der erstarkenden AfD aus. Nicht alle Menschen, die AfD wählten, seien Rechtsradikale, sagte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle. In der Partei gebe es aber Antisemiten und Rechtsextreme.

 

Privorozki: "Jüdische Menschen wollen und werden bleiben"

epd-Gespräch: Oliver Gierens

Halle (epd). Am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, verübte der Rechtsterrorist Stephan B. einen Anschlag auf die Synagoge in Halle und tötete dabei zwei unbeteiligte Passanten. Zum fünften Jahrestag wird am Mittwoch unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu einer Gedenkfeier in Halle erwartet. Für Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Halle und des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt, ist der Kampf gegen Antisemitismus aber eine Daueraufgabe - gerade vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen.

epd: Herr Privorozki, fünf Jahre ist der Anschlag auf die Synagoge in Halle nun vorbei. Wie präsent ist dieser Tag für Sie und Ihre Gemeinde bis heute?

Max Privorozki: Für diejenigen, die vor fünf Jahren am Jom-Kippur-Tag in der Synagoge gewesen sind, bleibt immer die Erinnerung an zwei Menschen, Jana und Kevin, die wir nicht gekannt haben und die an diesem Tag ermordet wurden. Wir leben weiter, aber sie sind nicht mehr da. Es gibt keine direkte Verbindung zu ihnen, aber unsere Gedanken sind bei ihnen. Dieses Jahr fällt Jom Kippur auf den 12. Oktober. Dann sprechen wir jedes Jahr ein besonderes Gebet für die beiden Opfer.

epd: Wie wird Ihre Gemeinde den 9. Oktober, den Jahrestag des Anschlags, begehen?

Privorozki: Wir haben seit einigen Jahren eine Tradition, dass wir immer um 12.03 Uhr, dem Zeitpunkt des Anschlags, eine Schweigeminute im Innenhof neben dem Mahnmal begehen. Dort gibt es die Möglichkeit für Politiker, Gedenkreden zu halten. In diesem Jahr haben wir ein besonderes Projekt. Die jüdische Wohlfahrtsorganisation „Keren Hayesod“ sowie der Verein „Christen an der Seite Israels“ werden eine neue Tora-Rolle an die Gemeinde übergeben. Es ist ein Zeichen, dass jüdisches Leben eine Zukunft hat. Vor einem Jahr haben sie angefangen, die Rolle zu schreiben und Spenden zu sammeln.

epd: Aktuell erlebt Ihre Gemeinde Anfeindungen über Google-Rezensionen im Internet. Wie gehen Sie damit um?

Privorozki: Die Polizei ermittelt derzeit. Es betrifft aber nicht unsere Seite der Jüdischen Gemeinde, sondern eine Seite, die sich „Synagoge Halle“ nennt. Google sagt, sie hätten die Hasskommentare schon gelöscht. Es gibt aber andere, wesentlich größere Probleme. Beispielsweise bekommen wir auch Morddrohungen oder erleben andere antisemitische Vorfälle, die nicht unbedingt in den Medien stehen, uns aber große Sorgen machen.

epd: Wie oft kommt es vor, dass Sie Anfeindungen oder Hass ausgesetzt sind?

Privorozki: Ich führe keine Statistik, aber ich habe sicherlich schon über 40 E-Mails mit Morddrohungen oder schlimmen Beleidigungen erhalten. So etwas gebe ich sofort an die Polizei und an die Antisemitismus-Meldestelle RIAS weiter.

epd: Ein weiterer Jahrestag kommt im Oktober hinzu: Vor einem Jahr verübten Hamas-Terroristen einen Terroranschlag in Israel. Sind die Feindseligkeiten größer geworden, seitdem Israel die Hamas im Gazastreifen angreift?

Privorozki: Eigentlich sollte es nach meinem Verständnis ja umgekehrt sein. Ich nenne diesen Anschlag der Hamas ein Pogrom, und danach haben wir theoretisch erwartet, dass es viel Empathie und Anteilnahme geben wird - so wie wir vor fünf Jahren nach dem Anschlag eine Solidaritätswelle erlebt haben. Aber offenbar macht es einen Unterschied, ob ein Anschlag von einem Neonazi oder von der Hamas ausgeht. Es gibt leider auch in Halle wie in anderen deutschen Städten antisemitische Demonstrationen. Aber die Opfer in Gaza sind ebenfalls Opfer der Hamas. Die Terroristen verstecken sich hinter Zivilpersonen, darunter auch Kinder. Diese Anfeindungen, die wir jetzt erleben, das ist Antisemitismus, der sich hinter der Forderung nach Frieden im Nahen Osten maskiert.

epd: Wo sehen Sie derzeit die größeren Gefahren für Juden in Sachsen-Anhalt: in der Zuwanderung aus islamisch geprägten Staaten oder den Wahlerfolgen der AfD?

Privorozki: Sowohl als auch. Ich kann nicht sagen, was von beiden gefährlicher ist. Was die AfD betrifft, denke ich, dass ihre Wahlerfolge auch in Halle deswegen so groß sind, weil die Politik der Bundesregierung als sehr schlecht empfunden wird, man kann auch sagen katastrophal. Nicht alle Menschen, die AfD wählen, sind Rechtsradikale. In der Partei gibt es aber Antisemiten und Rechtsradikale. Die gibt es allerdings in anderen Parteien auch. Die AfD ist eine populistische Partei, die sicherlich die Probleme im Land nicht lösen könnte. Aber die anderen Parteien in der Regierung lösen die Probleme auch nicht - deshalb ist es für die AfD einfach zu sagen: „Schaut her, die können das nicht.“

epd: Fühlen Sie sich von den Sicherheitsbehörden, vor allem von der Polizei, gut geschützt?

Privorozki: Ja, definitiv. Die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden ist hervorragend. An der Synagoge haben wir eine 24-stündige Polizeipräsenz. Wenn wir Hilfe brauchen, sind die Polizisten da.

epd: Zum Jahrestag des Anschlags kommen der Bundespräsident und der Ministerpräsident zum Gedenken nach Halle. Hilft Ihnen diese Polit-Prominenz - oder würden Sie sich eher wünschen, dass die Politik auch im Alltag entschiedener gegen Antisemitismus vorgeht?

Privorozki: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Jeder kann am 9. Oktober zu uns kommen und am Gedenken teilnehmen. Der Bundespräsident ist das Oberhaupt unseres Landes, und wenn er zu uns kommt, vertritt er das gesamte Land. Und Ministerpräsident Haseloff war der erste Politiker, der uns nach dem Anschlag besucht hat. Er ist noch am 9. Oktober spätabends zu uns gekommen, das werde ich ihm nicht vergessen. Es ist schwer zu beschreiben, wie wichtig diese Unterstützung für uns war. Dennoch wünschen wir uns unabhängig von diesem Jahrestag, dass die Politik den Antisemitismus immer bekämpft.

epd: Vor knapp einem Jahr gab es auch positive Nachrichten: In Sachsen-Anhalt wurden zwei Synagogen-Neubauten neu eröffnet, in Dessau und in Magdeburg. Die Vorgängerbauten waren einst von den Nazis zerstört worden. Sind das sichtbare Zeichen, dass das Judentum im Land eine Zukunft hat?

Privorozki: Auf jeden Fall. Es gibt die bekannte Redewendung, dass derjenige, der weg will, kein Haus baut. Hier wurden zwei neue Häuser gebaut, das heißt, jüdische Menschen möchten bleiben und werden weiter bleiben. Wir bekommen in Halle die neue Tora-Rolle. Auch das ist ein Zeichen, dass jüdisches Leben auch in Halle weitergeht. Ich hoffe, es hat eine gute Zukunft.

 

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