19.04.2021
"In der schwersten Zeit konnten wir nicht da sein" | Gedenken an Corona-Verstorbene
Berlin (epd). Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin liegt am Sonntagmorgen im grauen Nebel.
Hier, in der verwundeten Kirche, beginnt der Tag, der den Verstorbenen in der Corona-Pandemie gewidmet sein soll. Weitgehend im Zweiten Weltkrieg zerstört steht die Kirche mit ihrer Turmruine für das Leid, das hinterlassen wird durch Krieg, Zerstörung - jetzt eine Pandemie. Rund 80.000 Menschen in Deutschland sind seit Beginn der Pandemie an oder mit dem Coronavirus gestorben - mehr Menschen als in einer mittelgroßen Stadt wie Marburg, Bamberg oder Delmenhorst leben. Weltweit sind es drei Millionen Todesopfer.
Das Sterben in der Pandemie findet oft einsam statt. Angehörige dürfen teilweise nicht zu Infizierten, können sich nicht verabschieden. Begräbnisse und Trauerfeiern finden nur im kleinsten Kreis statt. An ihrem Schmerz wollten die Spitzen des Staates am Sonntag nun Anteil nehmen, bei einer Gedenkfeier und einem Gottesdienst. Im Neubau der Gedächtniskirche geht Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf Detlev Jacobs zu, dessen Mutter im September im Pflegeheim an Corona gestorben ist. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) spricht mit Anita Schedel, deren Mann Covid-19 nicht überlebte.
Vor Ort sind auch Bundesratspräsident Reiner Haseloff (CDU), der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, und - als Gastgeber der Gedenkfeier am Nachmittag im Konzerthaus am Gendarmenmarkt - Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Die Gedenkfeier war seine Idee. Im Herbst machte er öffentlich den Vorschlag, im Januar legte er ein Datum fest in der Hoffung, dass Mitte April ein größerer Teilnehmerkreis möglich sein würde. Die dritte Infektionswelle hat diese Hoffnungen zerschlagen. Die Gedenkfeier wurde im kleinsten Kreis geplant: nur die Vertreter der fünf Verfassungsorgane sowie fünf Hinterbliebene mit Begleitpersonen.
Eindrücklich sprechen die Angehörigen von den verstorbenen Liebsten und dem fehlenden Abschied. Anita Schedels Mann wurde nach der Einlieferung ins Krankenhaus in ein künstliches Koma versetzt, aus dem er nicht mehr erwachte. Kurz vor seinem Tod konnte sie noch einmal kurz zu ihm, "nur noch seine Hand drücken", sagt sie.
Finja Wilkens ist zur Gedenkfeier gekommen als Stimme derjenigen, die nicht an Corona und dennoch einsam gestorben sind. Ihr Vater erlag während der Pandemie einer Krebserkrankung. Auch ihre Familie konnte nur im allerletzten Lebensmoment bei ihm sein, "nur zum Beenden der lebenserhaltenden Maßnahmen", wie Wilkens berichtet. In den Wochen davor, "der schwersten Zeit seines Lebens, konnten wir nicht für ihn da sein".
Den Opfern und ihren Angehörigen Gesicht und Stimme geben, war das Anliegen von Bundespräsident Steinmeier. Ihr Leiden sei in der Öffentlichkeit oft unsichtbar geblieben, sagte er in seiner Ansprache in der Gedenkfeier: "Eine Gesellschaft, die dieses Leid verdrängt, wird als ganze Schaden nehmen." Das Staatsoberhaupt forderte Anteilnahme und Mitmenschlichkeit. In seiner Rede ging er auch auf das Leid derjenigen ein, die einsam sind oder um ihre Existenz fürchten.
Einen "Moment des Innehaltens" und das "jenseits der Tagespolitik" reklamierte Steinmeier für die Gedenkfeier. Das war schwer mitten in der Debatte um den Umgang mit der dritten Welle, das richtige Rezept gegen die gefüllten Intensivstationen und die Änderungen im Infektionsschutzgesetz, die der Bundestag in wenigen Tagen beschließen will.
Bei Twitter machten Menschen ihrem Protest gegen das in ihren Augen zu zögerliche Pandemie-Handeln der Ministerpräsidenten der Länder Luft. Nachdem die 16 Regierungschefs gemeinsam dazu aufgerufen hatten, anlässlich der Gedenkfeier am Wochenende leuchtende Kerzen zum Gedenken an die Verstorbenen ins Fenster zu stellen, erfanden sie den Hasttag "#einkerzen". Bei Twitter posteten sie Fotos von Kerzenmeeren vor Staatskanzleien oder Rathäusern, einige mit dem Zusatz "Zündet eure Kerzen doch selbst an".
Andere fanden dagegen den Zeitpunkt der Gedenkfeier, immerhin mehr als ein Jahr nach den ersten Corona-Todesopfern, richtig. Es sei eine Art öffentlicher Seelsorge, sagte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm. Den Angehörigen werde es gut tun, "wenn sie sehen, das ganze Land trauert mit". Für andere sei es Gelegenheit, das Leid hinter den Zahlen zu sehen, fügte er hinzu.
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