13.11.2019
Missbrauchsopfer fordern Entschädigung von evangelischer Kirche

Dresden (epd). Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) geht bei der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch stärker auf die Betroffenen zu. Dazu werde ein Betroffenbeirat eingesetzt, sagte die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs am Dienstag bei der EKD-Synode in Dresden. Fehrs ist die Sprecherin des Beauftragtenrates der EKD, der die Aufklärung koordiniert. Offen ist jedoch, in welcher Weise Opfer für die Spätfolgen von Missbrauch materiell entschädigt werden sollen. Vertreter von Betroffenen forderten am Dienstag, dass die EKD ein Verfahren für Entschädigungsleistungen etabliert.

Bislang regeln die einzelnen Landeskirchen selbst, welchen Ausgleich sie Missbrauchsopfern zukommen lassen, erklärte Fehrs. Das sei für viele Betroffene intransparent, kritisierte Kerstin Claus. Sie war die erste Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche, die auf einer EKD-Synode sprach. Claus ist Mitglied im Betroffenenrat des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Sie sagte, es sei noch zu früh, um über bestimmte Summen zu sprechen.

Die katholische Deutsche Bischofskonferenz befasst sich derzeit mit einem Vorschlag von Opfervertretern, der je nach Modell Entschädigungsleistungen von bis zu 400.000 Euro vorsieht. Man wolle sich Diskussionen in der katholischen Kirche über die Höhe von finanziellen Entschädigungen nicht anschließen, sagte der bayerische Kirchenjurist Nikolaus Blum, der ebenfalls Mitglied im EKD-Beauftragtenrat ist.

Ohne konkret zu werden sagte er, man wolle Forderungen nach individueller Aufarbeitung nachkommen und ein "professionelles Anerkennungs- und Unterstützungssystem" etablieren, das auch nach strafrechtlicher Verjährung ohne strenge Nachweispflichten Betroffenen helfe.

Eine weitere offene Frage im Aufarbeitungsprozess ist die geplante Dunkelfeldstudie. Sie ist Teil des 2018 beschlossenen Elf-Punkte-Plans zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Nach Gesprächen mit Wissenschaftlern ist die EKD allerdings zu dem Schluss gelangt, dass eine aussagekräftige Studie zu umfangreich und zu teuer wäre, um sie allein in Auftrag geben zu können. Dazu möchte die EKD mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, zusammenarbeiten und hofft, dass sich Partner finden, die das Dunkelfeld des Missbrauchs in allen gesellschaftliche Bereichen aufhellt. Rörig gab dafür auf der Synode ein positives Signal. Ob und wann eine solche Studie in Auftrag gegeben wird, ist aber unklar.

Mit dem geplanten Betroffenenbeirat und der unabhängigen zentralen Anlaufstelle "help!" hat die EKD zwei Punkte umgesetzt, die Betroffene in der Vergangenheit immer wieder gefordert hatten. Die Anlaufstelle hatte im Juli ihre Arbeit aufgenommen. Für den Betroffenenbeirat läuft ab sofort und noch bis zum 24. Januar 2020 ein Bewerbungsverfahren. Er soll aus zwölf Mitgliedern bestehen, die vier Jahre im Amt sein sollen. Im nächsten Frühjahr soll der Beirat seine Arbeit aufnehmen.

Aktuell sind 770 Fälle sexualisierter Gewalt innerhalb der evangelischen Kirche bekannt. Für die Aufarbeitung plant die EKD 1,3 Millionen Euro im Haushalt für das nächste Jahr ein, zusätzlich wird ein finanzieller Puffer von einer Million Euro bereitgestellt.

Nicht nur Zeugen: Evangelische Kirche bindet Missbrauchsopfer in Aufarbeitung ein

Von Corinna Buschow (epd)

Dresden (epd). Für die Kirche ist es ein Wagnis. "Gratwanderung" nennt es die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs. Die evangelische Kirche will Opfer in die Aufarbeitung von Missbrauch in Gemeinden und Diakonie-Einrichtungen einbinden. "Betroffene sind Beteiligte - nicht etwa Zeugen", sagte Fehrs, Sprecherin des Beauftragtenrats der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), am Dienstag bei der Synodentagung in Dresden. Dort sprach auch erstmals eine Betroffene.

Kerstin Claus macht in ihrer Rede deutlich, dass es für die Kirche ein langer Weg wird und es mindestens beim Thema Entschädigung Auseinandersetzungen geben wird. "Aufarbeitung ist kein Sprint", sagt Claus. Es gehe um eine Änderung der Haltung der Kirche.

Vor einem Jahr hatte die EKD-Synode in Würzburg das Thema Missbrauch prominent auf die Tagesordnung gesetzt. Auch wenn bis dahin in einigen Landeskirchen die Auseinandersetzung längst begonnen hatte, war es für den EKD-Verbund der Startschuss für die Aufklärung - ein später, finden die Opfer.

Umso emsiger wollte die evangelische Kirche das Thema angehen: Ein Elf-Punkte-Plan wurde beschlossen. Teil davon ist die bereits eingerichtete zentrale Anlaufstelle für Betroffene. Studien zur Aufarbeitung wurden ausgeschrieben. Eine erste systematisierte Zählung begann: 770 Missbrauchsfälle sind bis heute bekannt, 60 Prozent davon in der Diakonie. Geld wurde bereitgestellt - für 2020 erneut 1,3 Millionen Euro.

In Dresden kündigt Fehrs die Gründung eines eigenen Betroffenenbeirats an. Vorbild soll der Betroffenenrat beim Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung sein. Das Gremium mit zwölf Mitgliedern soll möglichst im Frühjahr 2020 starten als "kritisches Gegenüber" zur EKD, sagt Fehrs.

Der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig begrüßt diesen Beschluss als "sehr erfreulichen Meilenstein". Er sieht Fortschritte bei der evangelischen Kirche, aber auch weiteren Handlungsbedarf - etwa bei der Verständigung über Standards und Kriterien der Aufarbeitung, die er mit der evangelischen Kirche anstrebt. Er habe keinen Zweifel, dass eine solche Vereinbarung mit der katholischen Kirche bis Jahresende gelinge, sagt er vor der Synode. Mit den Protestanten soll sie möglichst Anfang 2020 stehen.

Unterstützung verspricht Rörig bei der Erstellung einer Dunkelfeldstudie, die die EKD auch angehen wollte. Erste wissenschaftliche Rückmeldungen zeigten aber, dass sich die Kirche allein mit der Erforschung des Dunkelfelds in allen gesellschaftlichen Bereichen übernehmen würde. Nun sucht sie Partner. Die Opfer hat sie bei dem Vorhaben an ihrer Seite: "Sexualisierte Gewalt ist ein Grundrisiko in unserer Gesellschaft", sagt Kerstin Claus vor der Synode, heißt: nicht nur in der Kirche.

Bei Bischöfin Fehrs bedankt sich Claus - und macht zugleich deutlich, dass sie das Engagement der Hamburgerin auch von anderen in der Kirche erwartet. "Stärken Sie sie", ruft sie den Synodalen zu. Persönlich an den EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm gewandt fordert sie, aus dem Versprechen, null Toleranz gegenüber Tätern und Mitwissern zu üben, Realität werden zu lassen. Das bedeute auch einen Perspektivwechsel in der Kirche: "Sie müssen Ihre Deutungshoheit aufgeben", appelliert sie an die Kirchenverantwortlichen.

Nur die Opfer könnten entscheiden, wann ihr Leid besser werde, sagt Claus. Individuelle Aufarbeitung sei höchst persönlich. Damit bezieht sie sich auf die heikle Debatte um pauschale Entschädigungsleistungen. Seit dem Herbsttreffen der katholischen Bischöfe stehen dort hohe sechsstellige Summen pro Opfer im Raum. Die evangelische Kirche will keine pauschalen Leistungen. Die Debatte um diese Summen sei eine Verkürzung des Problems, sagt der bayerische Oberkirchenrat Nikolaus Blum in Dresden.

Die Protestanten streben stattdessen individuelle Zahlungen zur Unterstützung der Betroffenen an. Aus dem Elf-Punkte-Plan ist das Thema ausgeklammert. "Das reicht nicht", sagt Claus. Sie fordert ein transparentes und einheitliches Entschädigungssystem. Der Betroffenenbeirat könnte damit schon ein erstes konfliktreiches Thema gefunden haben. Darüber müsse gesprochen werden, sagt Claus. Sie sei zunächst aber dankbar für die Öffnung hin zu den Opfern: "Das ist eine große Leistung für eine Kirche."

Rörig: Evangelische Kirche muss das Maximale gegen Missbrauch tun

Dresden (epd). Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, erwartet von der evangelischen Kirche weitere Anstrengungen im Umgang mit Missbrauchsfällen. Die Kirche müsse bei der Aufarbeitung und Prävention "das Maximum wollen und auch das Maximum tun", sagte Rörig vor Beratungen der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am Dienstag in Dresden.

Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) bescheinigte Rörig der Kirche Fortschritte im Umgang mit den Skandalen der Vergangenheit. "Wichtige Schritte sind absolviert, weitere müssen aber folgen", sagte Rörig, der am Vormittag vor dem EKD-Kirchenparlament sprechen wird. Er begrüßte die Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle für Betroffene sowie die Ausschreibung unabhängiger Studien zur Aufarbeitung der Missbrauchsskandale in der evangelischen Kirche und in den Einrichtungen der Diakonie.

Wichtig sei auch, dass es künftig einen Betroffenbeirat geben solle. Es dürfe niemals mehr passieren, sagte Rörig, "dass Betroffene als Störende und Bittstellende behandelt werden. Vielmehr müssen sie Unterstützung bei der individuellen Aufarbeitung bekommen und mit starken Rechten ausgestattet werden." Darüber sei er auch mit dem Beauftragtenrat der EKD im Gespräch.

Dem Beauftragtenrat zum Schutz vor sexualisierter Gewalt gehören mehrere Bischöfe an, Sprecherin ist die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs. Die EKD-Synode hatte vor einem Jahr in Würzburg einen Elf-Punkte-Plan über Vorhaben zur Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch beschlossen. In Dresden will die Synode eine erste Bilanz ziehen. Auch Betroffene nehmen an den Beratungen teil.

Der Missbrauchsbeauftragte Rörig sagte, er wolle die Mitglieder des Kirchenparlaments auch dafür sensibilisieren, wie dramatisch Missbrauch sei. Tausende Mädchen und Jungen seien sexueller Gewalt ausgesetzt. Durch die digitalen Medien kämen neuartige Taten und Formen von Gewalt hinzu. "Wir dürfen nicht einfach so hinnehmen, dass zehn Jahre nach dem sogenannten Missbrauchsskandal sexuelle Gewalt noch immer trauriger Alltag vieler Kinder und Jugendlichen ist", sagte Rörig.

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