16.09.2020
Schuster: Jüdisches Leben ist selbstverständlicher geworden
Berlin (epd). Nach Ansicht des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, ist jüdisches Leben in Deutschland selbstverständlicher geworden.
"International war es nicht en vogue unbedingt als Jude in Deutschland nach der Schoah zu leben", sagte Schuster am Dienstag im RBB-Inforadio in Berlin. Das habe sich deutlich geändert.
Es sei heute für jüdische Menschen außerhalb Deutschlands selbstverständlich, dass es wieder eine jüdische Gemeinschaft in Deutschland gibt, betonte Schuster. In Deutschland selber habe er das Gefühl, dass jüdisches Leben in Deutschland noch nicht quer durch die Bevölkerung als selbstverständlich angesehen werde.
Generell gebe es weiter sehr viele Ressentiments gegen Juden, sagte der Zentralratspräsident. Er selber bekomme antisemitische Mails und Zuschriften, auch am Stammtisch gebe es solche Äußerungen. In Zusammenhang mit der Corona-Pandemie seien auch Verschwörungsmythen wieder aufgetaucht, ähnlich wie im Mittelalter, als es um Brunnenvergiftung und die Pest ging.
Man wisse zudem, dass etwa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung Vorurteile gegen Juden hätten. 80 Prozent hätten aber keine. Mit Blick auf die AfD sagte Schuster, wenn man auf die vergangenen Jahre zurückblicke, so werde inzwischen deutlich offener gehetzt.
Zudem sei der Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 ein massiver Rückschlag gewesen. Danach habe es jedoch auch viel Solidarität gegeben. "Ich kann sagen, dass nach dem Anschlag von Halle eine Welle der Solidarität zu bemerken war, die ihresgleichen nach der Schoah suchen kann", sagte Schuster.
Der Zentralrat der Juden feiert am Dienstagvormittag mit einem Festakt in Berlin sein 70-jähriges Bestehen.
Merkel: Antisemitismus in Deutschland beschämt mich zutiefst
Berlin (epd). Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verurteilt zunehmend offen gezeigte Judenfeindlichkeit in Deutschland und ruft zum entschiedenen Kampf dagegen auf. "Es ist eine Schande und beschämt mich zutiefst, wie sich Rassismus und Antisemitismus in unserem Land in diesen Zeiten äußern", sagte sie am Dienstag in Berlin bei einem Festakt zum 70-jährigen Bestehen des Zentralrats der Juden in Deutschland. Dass sich viele Jüdinnen und Juden nicht sicher und nicht respektiert fühlten, mache ihr große Sorgen. Das jüdische Leben sei "ein konstitutiver Teil" - ein bestimmender Teil - Deutschlands, hob die Kanzlerin hervor.
Der Zentralrat der Juden wurde am 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main gegründet. Derzeit gehören ihm nach eigenen Angaben 105 jüdische Gemeinden mit rund 100.000 Mitgliedern an.
Merkel betonte: "Es stimmt, Rassismus und Antisemitismus waren nie verschwunden. Doch seit geraumer Zeit treten sie sichtbarer und enthemmter auf." Beleidigungen, Drohungen oder Verschwörungstheorien richteten sich offen gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger. "In sozialen Medien triefen viele Äußerungen geradezu vor Hass und Hetze. Dazu dürfen wird niemals schweigen", sagte die Kanzlerin. Der Antisemitismus sei ein Angriff auf Menschen, auf die Menschlichkeit, auf das Menschsein und richte sich gegen die Würde. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit müsse entschieden bekämpft werden.
Merkel würdigte die Arbeit des Zentralrats der Juden, der "kritischer Wächter und Mahner, kompetenter Anwalt jüdischer Anliegen und verlässlicher Partner in Politik und Gesellschaft" sei. Er habe sich in sieben Jahrzehnten um das Land verdient gemacht, für die jüdischen Gemeinden und für ein gutes Miteinander aller Menschen in Deutschland. Dabei sei es vor 70 Jahren noch völlig abwegig gewesen, zu hoffen, dass Juden in Deutschland einen Neuanfang wagen würden.
Zentralratspräsident Josef Schuster erinnerte daran, dass die jüdische Dachorganisation damals keine auf Dauer angelegte Institution war. Es sei vor allem darum gegangen, den in Deutschland gestrandeten Juden bei der Ausreise zu helfen. Die damaligen Pioniere hätten dem Land der Täter dabei aber einen "riesigen Vertrauensvorschuss" gegeben.
Angesichts der Übergriffe, Ausgrenzungen und Anschläge wie auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 stelle sich heute wieder leise die Frage, "wie sicher wir noch in diesem Land leben können". Wegen der Corona-Pandemie kursierten im Internet die "wirrsten Verschwörungsmythen, die die Juden als Verursacher des Virus sehen". Auf Demonstrationen stilisierten sich Teilnehmer wegen der Auflagen als Verfolgte und hefteten sich den Judenstern der Nazizeit ans Revers. "Ich kenne einige betagte Menschen, die diesen Stern damals tragen mussten. Menschen, die Jahre versteckt ausharren mussten, Menschen die nur knapp überlebt haben", sagte Schuster, Es seien übrigens Menschen, "die die Corona-Auflagen tapfer hinnehmen und keinen Grund sehen, sich darüber zu beschweren". Die Verschwörungsmythen zeigten, dass eine Sensibilität gegenüber NS-Opfern und ein Verständnis der damaligen Situation fehlten.
epd-Nachrichten und Fotos sind urheberrechtlich geschützt. Sie dienen hier ausschließlich der persönlichen Information. Jede weitergehende Nutzung, insbesondere ihre Vervielfältigung, Veröffentlichung oder Speicherung in Datenbanken sowie jegliche gewerbliche Nutzung oder Weitergabe an Dritte ist nur mit Genehmigung der Verkaufsleitung von epd (verkauf@epd.de) gestattet.