16.12.2021
Schwebender Weihnachtsklang: Handglockenspieler formen Glockentöne zu Melodien und Akkorden

Seesen/Gotha (epd). Bevor die Probe beginnt, streift sich Kirchenmusiker Andreas Pasemann (59) erst einmal die schwarzen Stoffhandschuhe über.

Denn gleich werden er und seine elf Mitspieler mit äußerst empfindlichen Instrumenten musizieren: mit Handglocken. Die sind aus Bronze gefertigt und so spiegelglatt geschliffen, dass sie goldfarben im weihnachtlichen Licht glitzern. „Ohne Handschuhe bleibt jeder Fingerabdruck sichtbar, und es kommt zu chemischen Reaktionen“, sagt Pasemann. Der Musiker aus Seesen hat vor knapp zwei Jahren, kurz vor Corona, in der Stadt am Harz einen Handglockenchor gegründet, den er selbst dirigiert. Es ist jüngste von etwa 40 Chören dieser Art in Deutschland. „Das ist schon etwas Außergewöhnliches, das man nicht jeden Tag hört“, schwärmt Pasemann.

Handglocken mit ihrem schwebenden Klang sind die kleinen Geschwister der großen Kirchenglocken, die oben in den Türmen hängen. Wie diese sind sie in verschiedenen Tönen gestimmt, so dass sich Melodien und Akkorde mit ihnen spielen lassen. Doch anders als ihre großen Schwestern haben die Handglocken ein paar entscheidende Vorteile: Man kann sie überall mit hinnehmen. Und man kann mit ihnen Konzerte spielen, gerade in der Advents- und Weihnachtszeit.

„Herbei, oh Ihr Gläubigen“ oder „Nun komm der Heiden Heiland“: Diese klassischen Weihnachtslieder gehören auch zum Repertoire des Handglockenchores in Seesen. Im Altarraum der evangelischen St. Andreaskirche haben die Spieler an diesem Mittwochabend ihre Ausrüstung aufgebaut: elf Tische mit Schaumstoffauflage und jeweils vier bis fünf funkelnden Konzertglocken darauf. Insgesamt liegen dort also etwa 50 Glocken: vom tiefen C, das rund drei Kilo wiegt, bis zum kleinen C vier Oktaven höher.

Hinter den Tischen stehen neun Frauen und zwei Männer, um jeweils im richtigen Moment die richtige Glocke zu erheben und zum Klingen zu bringen - wegen Corona natürlich auf Abstand und mit Mundschutz. „Wir bilden im Prinzip alle zusammen ein Klavier“, sagt Doreen Rommel (34), die seit Anfang an dabei ist. „Und jeder hat für ein paar Tasten die Verantwortung.“ Chorleiter Pasemann zählt den Auftakt: „Eins, zwei, drei, vier!“ Und dann wogen Melodien und satte Akkorde vom einen Spieler zum anderen. „Ganz gechillt muss es klingen, ohne Hektik“, mahnt Pasemann.

Rund 500 bis 600 solcher Handglockenspieler gibt es zurzeit in Deutschland. „Bei uns ist das noch ziemlich unbekannt“, sagt der Glockenspiel-Experte Matthias Eichhorn aus dem thüringischen Gotha, der bundesweit Workshops für Glockenspieler leitet. „Die meisten denken, wenn sie von Handglocken hören, erst einmal an Kuhglocken.“ In den USA ist das anders, dort gibt es bis zu 70.000 Handglockenchöre in Kirchen, Schulen, Universitäten oder Kulturzentren. Doch auch in Deutschland nimmt die Zahl der Ensembles langsam, aber stetig zu. „Handglocken lösen bei den Leuten positive Emotionen aus“, sagt Eichhorn. „Viele, die das zum ersten Mal hören, sagen, sie seien wie verzaubert.“

Auch die Spielerinnen und Spieler in Seesen sind gebannt bei der Sache. „Das ist wie Gehirnjogging, weil man sich so konzentrieren muss“, erzählt Garnet Günzel-Oberbeck (49). „Denn man hat ja nur diesen einen Moment, wo man dran ist.“ Und wenn den jemand verschläft, hat der Klang ein Loch. Die Taktschläge mitzählen und aufeinander hören ist deshalb äußerst wichtig. „Die ganze Gruppe muss einen gemeinsamen Herzschlag haben“, betont Eleonore Seidig (50). „Aber es muss mehr sein als ein Uhrwerk, sonst wäre es keine Musik.“

In der Tat gibt es rund 30 Arten, wie sich eine Glocke anschlagen lässt. Weich oder hart, gedämpft oder ausklingend, mit dem Klöppel von innen oder einem Schlegel von außen. Anders als bei mechanischen Glockenspielen ist hier alles Handarbeit. Und noch ein Vorteil: Anders als Sänger oder Bläser verursachen Glocken keine Aerosole, die möglicherweise ansteckend sind. So konnte der Seesener Glockenchor, von einigen Pausen abgesehen, die ganze Corona-Zeit über proben und ab und zu auch auftreten. „Das hat uns ein bisschen durch diese traurige Zeit getragen“, sagt Mitspielerin Barbara Kuprat (60). Dirigent Pasemann, hofft, dass es nächstes Jahr wieder mehr Auftritte gibt: „Unser Auftragsbuch ist jedenfalls schon wieder voll.“

Von Michael Grau (epd)

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