04.09.2019
Steinmeier warnt vor Klitterung deutscher Geschichte | Holocaust-Überlebende Lasker-Wallfisch mit Nationalpreis geehrt

Berlin (epd). Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Altbundespräsident Horst Köhler haben die Zunahme von Antisemitismus verurteilt und vor einer Klitterung der deutschen Geschichte gewarnt. "Mit dem wiederauflebenden Antisemitismus werden wir uns niemals abfinden", sagte Steinmeier am Dienstag bei der Verleihung des Nationalpreises an die Holocaust-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch in Berlin.

Köhler betonte, die Gesellschaft dürfe dem nicht tatenlos zusehen. Beide forderten, die Erinnerung an die Judenverfolgung wachzuhalten.

"Eine historische Schuld kann nicht beglichen oder aufgerechnet werden, sie muss leiten in der Gegenwart", sagte Steinmeier. Es gehe nicht darum, die Geschichte zu bewältigen, um zu einem "unverkrampften" Verhältnis zur eigenen Nation zurückkehren zu können.

"Verkrampft ist ein Verhältnis zur eigenen Nation, das die eigene Geschichte umschreiben muss zu einer makellosen Kette von Leistungen und Errungenschaften", mahnte Steinmeier: "Wer glaubt, er brauche eine bereinigte Geschichtsschreibung als Ausweis der Größe der eigenen Nation, der ist ein Nationalist, aber kein Patriot." Köhler sagte, wenn Extremisten versuchten, die Geschichte des 20. Jahrhunderts in eine Heldengeschichte umzudeuten, legten sie Axt an das Fundament der deutschen Wertedemokratie.

Das aktuelle und frühere Staatsoberhaupt nannten dabei nicht die AfD, dürften aber auf die Partei angespielt haben. Die AfD hatte in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2017 von einer "Verengung" der Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus gesprochen und gefordert, sie mit "positiv identitätsstiftenden" Aspekten "aufzubrechen". Für Empörung sorgte zudem Parteichef Alexander Gauland mit der Aussage, der Nationalsozialismus sei nur ein "Vogelschiss" der gesamten deutschen Geschichte gewesen.

Antisemitische Straftaten hatten in den vergangenen Jahren in Deutschland konstant zugenommen. Die Preisträgerin äußerte sich nahezu resigniert. Der heutige, moderne, neue Antisemitismus sei leider noch immer der alte, sagte Lasker-Wallfisch. Nach dem Überleben des NS-Konzentrationslagers hätte sie nie geglaubt, dass Antisemitismus in diesen Jahren wieder in Schlagzeilen stehe. "Im Kampf gegen Antisemitismus fühlt man sich wie eine Ameise, die den Mount Everest besteigen will -einfach machtlos", sagte die 94-Jährige vor mehreren hundert Gästen bei der Preisverleihung.

Lasker-Wallfisch erhielt den Preis für ihr Eintreten gegen Antisemitismus und ihren Einsatz für Verständigung. Sie gehörte als Cellistin zum sogenannten Mädchenorchester des Vernichtungslagers Auschwitz. Die Kapelle musste unter anderem beim Ein- und Ausmarsch der Arbeitstrupps spielen, bei der Ankunft Gefangener oder zur Unterhaltung des Wachpersonals. Die 1925 geborene Anita Lasker-Wallfisch war gemeinsam mit ihrer Schwester Renate in den Vernichtungslagern Auschwitz und Bergen-Belsen inhaftiert. Beide überlebten vor allem dank ihres Mitwirkens im Frauen-Orchester. Kurz nach Kriegsende emigrierte Anita Lasker-Wallfisch nach Großbritannien, wo sie bis heute lebt.

Der Nationalpreis wird von der Deutschen Nationalstiftung vergeben und ist mit 30.000 Euro dotiert. Vergeben wurde außerdem der mit einem Preisgeld von 20.000 Euro verbundene Förderpreis. Er ging an die Düsseldorfer Initiative "JUMU - Juden und Muslime", die sich für ein gutes Zusammenleben von Juden und Muslimen engagiert.

"Starke Streiterin gegen Antisemitismus"

Von Karen Miether und Martina Schwager (epd)

Berlin/London/Bergen-Belsen (epd). Hunderte Male hat Anita Lasker-Wallfisch schon vor Jugendlichen von ihrer Zeit in den Lagern in Auschwitz und Bergen-Belsen berichtet und aus ihrem Buch gelesen. Und sie will damit weitermachen: "Bis ich tot umfalle", hat sie einmal gesagt. Als eine "starke Streiterin gegen den Antisemitismus" hat die Deutsche Nationalstiftung die 94-Jährige am Dienstag in Berlin mit dem mit 30.000 Euro dotierten Nationalpreis 2019 ausgezeichnet.

Seit 1994 nehme sie immer wieder große Anstrengungen auf sich, um Schüler in Deutschland über die Gräuel der Nazi-Zeit zu informieren, erklärte die Nationalstiftung. Lasker-Wallfisch, die zu den immer weniger werdenden Überlebenden des Holocaust gehört, sieht darin auch eine Pflicht der letzten Zeugen. "Wir sind die Stimmen der Menschen, die man umgebracht hat", so hat sei es einmal formuliert.

Anita Lasker-Wallfisch kann viel bezeugen. Als jüngste von drei Töchtern aus bildungsbürgerlichem Haus erlebt sie, wie die Familie nach und nach ihrer Rechte beraubt wird. Der Vater Alfons Lasker, ein angesehener Rechtsanwalt, bemüht sich ebenso verzweifelt wie vergeblich, aus Deutschland herauszukommen. Im April 1942 werden die Eltern deportiert und später ermordet. Während die älteste Schwester schon früher nach England emigriert ist, sind die beiden jüngeren, Anita und Renate, auf sich gestellt.

Die damals 16- und 17-Jährigen müssen Zwangsarbeit in einer Papierfabrik leisten. Sie fälschen Pässe, um doch noch zu entkommen, werden erwischt und landen im Gefängnis. Später werden sie getrennt voneinander nach Auschwitz gebracht. Weil Anita kurz nach ihrer Ankunft beiläufig erwähnt, dass sie Cello spielt, wird sie Mitglied im Frauenorchester des Lagers. Das rettet ihr und ihrer Schwester das Leben.

Auch als sie später in das Konzentrationslager Bergen-Belsen bei Celle deportiert werden, geben die beiden einander Halt. In dem überfüllten Lager in der Lüneburger Heide herrschen Hunger, Durst und Seuchen vor. "Auschwitz war ein Lager, in dem man Menschen systematisch ermordete", schreibt Lasker-Wallfisch in ihren Lebenserinnerungen: "In Belsen krepierte man einfach."

Als britische Truppen das Lager am 15. April 1945 befreien, finden sie Tausende unbestatteter Leichen und Zehntausende todkranker Menschen vor. Fünf Monate nach der Befreiung erhebt ein britisches Militärgericht Anklage gegen die Täter. Anita Lasker-Wallfisch ist als Zeugin in dem Prozess vorgeladen, den sie als Farce erlebt, wie sie schreibt. Ein Verbrechen wie der Massenmord an Millionen von Menschen stehe außerhalb jedes Gesetzes.

Anita wandert schließlich nach England aus. Sie heiratet den Pianisten Peter Wallfisch, mit dem sie zwei Kinder hat. Sie macht als Cellistin Karriere und ist Mitbegründerin des "Englisch Chamber Orchestra". Lange hat Anita Lasker-Wallfisch über ihre Erinnerungen geschwiegen. Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Befreiung hat sie dann ihre Erfahrungen zunächst für ihre Kinder und Enkel aufgeschrieben. Das Buch "Ihr sollt die Wahrheit erben" erschien 1997 erstmals auch auf Deutsch.

Auch um das Gedenken für die Zukunft zu bewahren, hat sie Vorkehrungen getroffen. Sie hat an einem Hologramm-Projekt teilgenommen. Zeitzeugen werden bei der Beantwortung Hunderter Fragen von bis zu 50 Kameras gefilmt. Später werden die Aufnahmen zu einem zwei- oder dreidimensionalen Hologramm zusammengestellt. Auf eine Bühne projiziert, scheint es, als sitze der Überlebende tatsächlich dort.

epd-Nachrichten und Fotos sind urheberrechtlich geschützt. Sie dienen hier ausschließlich der persönlichen Information. Jede weitergehende Nutzung, insbesondere ihre Vervielfältigung, Veröffentlichung oder Speicherung in Datenbanken sowie jegliche gewerbliche Nutzung oder Weitergabe an Dritte ist nur mit Genehmigung der Verkaufsleitung von epd (verkauf@epd.de) gestattet.


Bleiben Sie mit unseren Newslettern auf dem Laufenden.

Hier Abonnieren

Die besten News per E-Mail - 1x pro Monat - Jederzeit kündbar