17.09.2019
Willkommene Inseln im Bahnhofstrubel | Seit 125 Jahren begleitet die christliche Bahnhofsmission Reisende und hilft Gestrandeten

Von Dirk Baas (epd) "Im Gespräch erfährt man viel", sagt Bettina Spahn. Die Leiterin der Katholischen Bahnhofsmission am Münchner Hauptbahnhof ist eine einfühlsame Zuhörerin. Armut, Obdachlosigkeit, Sucht: Die christlichen Einrichtungen sind oft Anlaufstellen für Menschen, die nicht wissen, wohin sie sich sonst wenden sollen oder die in anderen sozialen Einrichtungen nicht mehr ankommen.

Seit 125 Jahren, seit 1894, sind Bahnhofsmissionen willkommene "Inseln" in einem beschwerlichen Leben. Am 27. September wird am Berliner Ostbahnhof das Jubiläum gefeiert.

Fast immer geht es in Spahns Gesprächen um Armut, etwa um die Rente, die nicht reicht. Sie hört von Überschuldung, die junge Familien dazu bringt, am Bahnhof um Babywindeln zu bitten. Von Migranten und ihren Arbeitsverhältnissen am Rande oder schon jenseits der Legalität. Von psychischen Erkrankungen. Von Wohnungslosigkeit. "Bei vielen ist das Leben auf Kante genäht", sagt Spahn.

Die Münchner Bahnhofsmission wurde 1897 gegründet und ist nach der Berliner die zweitälteste. Durchschnittlich 300 Menschen fragen hier jeden Tag nach Hilfe. Sie bekommen von den Helferinnen und Helfern in ihren leuchtend blauen Westen mit gelb-weiß-rotem Symbol Getränke und eine Brotzeit. Es gibt eine Notversorgung mit Kleidung, vor allem aber eine professionelle Sozialberatung - und nachts wird der Aufenthaltsraum an Gleis 11 zu einem Refugium für Mädchen und Frauen.

Träger der Anlaufstelle sind der katholische Verein IN VIA und das Evangelische Hilfswerk München. "Neue Entwicklungen werden als erstes hier auffällig", erklärt Spahns evangelische Leitungskollegin Barbara Thoma. Flüchtlingskrise, EU-Osterweiterung - die Bahnhofsmission sei wie ein Seismograph, der neue Schwingungen wahrnehme, bevor sie in Politik und Gesellschaft ankämen.

Die Helferinnen und Helfer der Bahnhofsmissionen erlebten in ihrer Geschichte am Drehkreuz Bahnhof helle und dunkle Stunden, mit Hamsterfahrten in Hungerzeiten, Vertriebenen, heimkehrenden Kriegsgefangenen, Besuchsfahrten von Rentnern aus der DDR oder zuletzt 2015 die Herausforderung zu versorgender Flüchtlinge.

Die Unterstützungsangebote der 105 Einrichtungen sind keineswegs überall in Deutschland gleich, die Träger entscheiden darüber in eigener Hoheit. Zwei Millionen Kontakte werden pro Jahr registriert. Das sind ganz überwiegend ältere Reisende oder Menschen mit Behinderungen, die Hilfen etwa beim Umsteigen brauchen.

Der Alltag der Bahnhofmissionen ist ein dauerhafter Balanceakt zwischen Reisebegleitung und sozialer Hilfe: "Spannungen sind da vorprogrammiert; jedem und jeder gerecht zu werden ist schwer, wenn nicht unmöglich", schreibt Michael Goller, Autor der Studie "Monitoring für die Bahnhofsmissionen" (2017).

Die Geschichte der Bahnhofsmission in Deutschland beginnt in Berlin im Herbst 1894, am einstigen Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Ostbahnhof. Eine Handvoll Frauen des Vereins "Freundinnen junger Mädchen" versuchten, die per Bahn vom Land kommenden Mädchen vor Ausbeutung und Missbrauch zu schützen.

Junge Frauen aus den Dörfern strömten Ende des 19. Jahrhunderts in die wachsenden Monopolen, um Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Die aufstrebenden bürgerlichen Schichten suchten nach Personal, Köchinnen, Dienstmädchen und Putzfrauen. Doch organisierte Kriminelle machten sich die Unwissenheit der ankommenden Mädchen zunutze und lockten sie als rechtlose Arbeitskräfte in Fabriken oder verkauften sie gar als Prostituierte.

Bereits 1884 richtete der "Internationale Verband der Freundinnen junger Mädchen" im schweizerischen Genf das erste Bahnhofswerk ein. Ab dem 1. Oktober 1894 empfingen dann in Deutschland die Berliner "Freundinnen" die jungen Frauen direkt am Bahnsteig, berieten sie und besuchten sie später auch in ihren Quartieren.

Zeitgleich trat der "Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend" in Aktion, gegründet vom evangelischen Pastor Johannes Burckhardt. "Die entscheidende Institutionalisierung ständiger Bahnhofsmissionsarbeit in Berlin im Jahre 1894 ist auf dessen Initiative zurückzuführen", sagt der Soziologe Bruno W. Nikles.

Bald entstand ein Netz von Bahnhofsdiensten, die auch von jüdischen Organisationen oder dem Roten Kreuz angeboten wurden. 1897 öffnete eine Bahnhofsmission in München, schnell folgten weitere Städte.

Ökumene wurde bereits früh gelebt: Früh traten evangelische und katholische Bahnhofsmissionen gemeinsam auf, wovon seit 1898 einheitliche Plakate zeugten. 1910 wurde die bis heute bestehende Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission in Deutschland gegründet.

"Wir verstehen uns als die lebendige Existenz der Kirche am Bahnhof", sagt Klaus-Dieter Kottnik, seit 2017 Bundesvorsitzender der Evangelischen Bahnhofsmission, dem epd. Sie gäben "Raum, einfach da zu sein, für Gespräche, vor allem für Seelsorge". Menschen könnten sich vorbehaltlos "mit allen Anliegen an die Mitarbeitenden wenden". Sie fänden in der Regel geeignete Gesprächspartner, die auch weitervermitteln könnten - dank der sehr guten Vernetzung mit vielen anderen Anbietern sozialer Hilfen.

Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich 2017 bei einem Besuch der Bahnhofsmission am Berliner Bahnhof Zoo berührt vom Einsatz der haupt- und ehrenamtlichen Helfer: Die Mission zeige mit ihren Hilfsangeboten vielen Obdachlosen "einen neuen Lebensweg auf, damit sie wieder Boden unter die Füße bekommen".

Das Stichwort: Bahnhofsmission - Knotenpunkt der sozialen Hilfe

Frankfurt a.M. (epd). Die rund 2.300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahnhofsmissionen kümmern sich jährlich um rund zwei Millionen Menschen. Sie verstehen sich als gelebte Kirche am Bahnhof und sind offen für alle Menschen, die unterwegs sind: "Wir helfen jedem, sofort, gratis, ohne, dass vorher bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden müssen und meist ohne dass man sich bei uns anmelden muss", heißt es auf der Homepage. Getragen werden die Bahnhofsmissionen von evangelischer und katholischer Kirche.

Aktiv sind die überwiegend ehrenamtlichen Helfer an derzeit 105 Bahnhöfen in Deutschland - ein dichtes, historisch gewachsenes Netz, dessen Geschichte bis zur Gründung der ersten Bahnhofsmission im Jahr 1894 in Berlin zurückreicht.

Vorteil dieser Knotenpunkte sozialer Hilfen: Die Standorte sind gut vernetzt mit anderen Unterstützungseinrichtungen. So erfolgt oft eine schnelle Weitervermittlung von Hilfesuchenden auch an weitere soziale Träger. Der Sozialpsychologe Karl E. Weick spricht von "lose gekoppelten Systemen".

In den selbstständigen lokalen Bahnhofsmissionen arbeiten katholische und evangelische Träger oft ökumenisch zusammen. Sie haben meist einen oder zwei Leitende, wenige Festangestellte und bundesweit fast 2.000 Ehrenamtler, die regelmäßig mitarbeiten. Dazu kommen noch Absolventen des Freiwilligen Sozialen Jahres, Beschäftigte des zweiten Arbeitsmarktes sowie eine Vielzahl von Praktikantinnen und Praktikanten.

Das Unterstützungsangebot der Missionen steht auf drei Säulen: Geleit für die Reisenden, Senioren etwa oder mit Menschen mit Behinderung. Dann gibt es Hilfen für Menschen in akuten Notlagen, die einfach nicht mehr weiterwissen: Obdachlose, die am Bahnhof stranden, oder Flüchtlinge auf der Durchreise. Schließlich bieten einige Bahnhofsmissionen eine spezielle Reisebegleitung auf acht Fernverkehrsstrecken für Kinder an: Kids on Tour.

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