10.09.2023
Andacht zum Gedenken an die Opfer von SBZ und SED-Unrecht, 10.09.2023 Wernigerode, Regionalbischöfin Dr. Friederike Spengler
26. Bundeskongress der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur | 08.-10.09.2023 Wernigerode
10.09.2023 | 12:30-13:00 | Johanneskirche Wernigerode
Andacht zum Gedenken an die Opfer von SBZ und SED-Unrecht
Regionalbischöfin Dr. Friederike Spengler | Rundfunk-Jugendchor des Landesgymnasiums für Musik
Ablauf
Musik | Richard Kidd (*1954): Ubi caritas (3-5 Minuten) | Chor
Kurze Begrüßung
Kyrie
Psalm Ps 146 FFS/N.N.
Agendarische Eröffnung
Ansprache zu Gen 28, 10-22
Lied | Gib Frieden, Herr gib Frieden | EG 430, Str. 1-4
Fürbitte und Segen
Musik | Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) | Chor Jauchzet dem Herrn, alle Welt (Psalm 100)
Begrüßung
Eröffnung: „Wo die Liebe wohnt, da ist Gott.“ So sei es. Amen
Über der neuen Woche steht ein Vers aus Psalm 103:
„Lobe den Herrn, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“
Schon eine Zumutung, oder?: zum Abschluss einer Bundeskonferenz, bei der Sie sich mit so viel Bösem und Zerstörerischem beschäftigt haben, bei der Geschichte durch Geschichten entsteht, die die Abgründe menschlichen Tuns offenlegen.
Der Liebe zu trauen wagen wider erlebter Abgründe und hinterlassenem Hass. Das Gute suchen, wie die berühmte Nadel im Heuhaufen. Trotz allem Angetanen und Getanen das Gelungene und Geschenkte wahrnehmen und dafür danken können – das ist zuweilen mehr Sehnsucht als Lob auf den Lippen. Wie kann das gelingen?
Alles beginnt mit Gott und seinem Erbarmen.
Er sieht, wo wir stehen, was uns bewegt. Bei ihm ist gut Sein.
Wir beten:
Kyrie
Christus, schau uns an.
Sieh auf alle, denen Unrecht getan wurde,
und die noch heute mit den Folgen leben müssen.
Herr, erbarme dich.
Christus, schau uns an.
Stärke alle, die sich um Aufarbeitung und Gerechtigkeit bemühen,
die für andere kämpfen, ihr Leid und ihre Geschichte mittragen.
Herr, erbarme dich.
Christus, schau uns an.
Segne alle, die fragen und hören wollen, was damals geschah,
die jungen Menschen, die sich der Vergangenheit zuwenden.
Herr, erbarme dich.
Psalm 146
[im Wechsel vorgetragen von FFS/Pfrn. Neumann-Becker mit der Gemeinde gesprochen]
Lobe den Herrn, meine Seele!
Ich will den Herrn loben mein Leben lang!
Meinem Gott will ich singen, solange ich bin!
Verlasst euch nicht auf Fürsten!
Das sind nur Menschen, die können nicht helfen.
Wenn ihnen der Lebensatem ausgeht,
kehren sie wieder zur Erde zurück.
Dann ist es vorbei mit ihren Plänen.
Glücklich ist, wer den Gott Jakobs zum Helfer hat,
wer seine Hoffnung auf den Herrn setzt,
auf seinen Gott!
Himmel und Erde hat er gemacht,
das Meer und alles, was sich darin bewegt.
Für alle Zeit hält er an seiner Treue fest.
Er verhilft den Unterdrückten zum Recht.
Er gibt den Hungernden zu essen.
Der Herr macht die Gefangenen frei.
Der Herr macht die Blinden sehend.
Der Herr richtet die Niedergeschlagenen auf.
Der Herr liebt die Gerechten.
Der Herr beschützt die Fremden.
Er unterstützt Witwen und Waisen,
aber die Frevler führt er in die Irre.
Der Herr herrscht als König für immer!
Er ist dein Gott, Zion, und bleibt es
von Generation zu Generation!
Halleluja!
Ansprache
Wieder so einer, der freiweg jubelt… Ob der Dichter dieses Psalms nicht von dieser Welt ist?
Oh doch! Wir hören ja von seinen Erfahrungen mit den Mächtigen. Auf die ist kein Verlass, weiß er. Im besten Fall sind sie gleichgültig passiv. Im schlimmsten Fall richten sie sich aktiv gegen das Volk.
Der Psalmbeter kennt Hungernde, Unterdrückte, Niedergeschlagene, Gefangene. Sie alle leiden unter Lieblosigkeit, mangelnden Solidarität und Missachtung ihrer Mitmenschen.
Die Pointe aber ist: Gerade sie haben Gott auf ihrer Seite!
Gerade ihnen wendet Gott sich zu, sieht sie an und schenkt ihnen damit Ansehen.
Damals und heute spricht Gott:
Egal, was andere Menschen über dich geredet haben,
was sie dir angehängt haben
und wofür sie dich verurteilt haben –
ich sehe dich.
Ich sehe das Unrecht, das dir widerfahren ist.
Ich richte dich auf.
Ich verhelfe dir zu deinem Recht.
Dein Ansehen ist nicht verloren, es ist aufgehoben bei mir.
Es sind ganz besondere Momente, wenn Menschen – vielleicht zum ersten Mal – spüren, dass Gott ihnen wirklich nahe ist. Manchmal prägen sie das ganze weitere Leben. Denn da erlebt einer, dass Gott ihn sieht, Verbindung zu ihm sucht und offenhält.
Jakob ist so einer. Und dabei ist er selbst eine sehr ambivalente Persönlichkeit. Aber gerade da, wo er es ganz unbedingt nötig hat (er ist gerade auf der Flucht vor seinem Bruder Esau, dem er das Erstgeburtsrecht und den dazugehörigen Segen gestohlen hat), gerade da erlebt er Gott für sich. Ich lese einen Abschnitt aus dem Buch Genesis im 28. Kapitel:
Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.
Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der Herr stand oben darauf und sprach:
Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.
Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf und nannte die Stätte Bethel; vorher aber hieß die Stadt Lus. (Gen 28, 10-19)
Was für ein Bild: Der Himmel steht offen. Gott selbst verbindet Himmel und Erde. Gott ist nicht sichtbar, aber seine Boten, steigen eine Leiter auf und ab. Boten Gottes. Engel. Sie zeigen die Verbindung zu Gott, die längst da ist.
Jakob erfährt Gottes Nähe, als gerade nichts gut war für ihn.
Im Gegenteil. Er schläft und träumt als einer, dessen Zukunft völlig im Dunkeln liegt. Die Schuld an seinem Bruder liegt hinter ihm und noch viel Schuld vor ihm. Was das Leben noch so für ihn bereithält, ahnt er nicht einmal: Die Jahre seiner Brautwerbung und den Betrug seines Schwiegervaters (zwei mal sieben Jahre muss er schuften für ihn), ein Ringen, ein harter Kampf mit Gott, das Wiedersehen mit dem Bruder. Wen wundert es also, dass der Erzähler ihn als einen beschreibt, der nur einen Stein hat, um seinen Kopf darauf zu betten.
Und dennoch, vielleicht ja gerade in dieser Situation zeigt ihm Gott den Himmel offen.
Jakob erwacht. Und weiß sofort: Das war keine Täuschung, das war keine Illusion, die sich mit dem Morgengrauen in Ernüchterung auflöst. Das schöne Bild ist zwar weg, aber er spürt die Verbindung zu Gott:
Wirklich, Gott ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht! Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels, sagt er.
Jakob will sich diesen besonderen Ort unbedingt merken. Das Steinmal. Wie ein Denkmal an das, was hier geschah. Solche Orte sind wichtig, lebenswichtig, das wissen Sie hier. Er setzt also den Stein der Erinnerung und geht weiter. Tief in ihm die Erfahrung, das Wissen darum, dass Gott ihm eine Verbindung zu ihm gebaut hat, die halten wird. Gott hält sein Versprechen. Und genau dieses Zutrauen in Gott wird es ihm eines Tages ermöglichen, sich mit den dunklen Abschnitten seiner Biografie auseinanderzusetzen.
Jakobs Geschichte kann Mut machen. Meine Geschichte ist bei Gott aufgehoben. Deine Geschichte ist bei Gott aufgehoben. Er sieht dich an, die Augen voll Liebe. Er kennt deine Wunden an Seele und Leib. Er will sie heilen, Dich heil machen.
Und was ist mit denen, die mir das angetan haben?, denkst du jetzt vielleicht. Ist das einfach vergessen? Um Gottes Willen, so möchte ich es sagen: Um Gottes Willen, nein. Aber der, dessen innigster Wunsch es ist, Dir ein heilvolles, ein geheiltes Leben zu ermöglichen, nimmt den Umgang mit den Tätern in seine Hand. Wie er mit denen umgehen wird, deren Taten nie bewiesen, rechtlich nicht greifbar oder bereits verjährt sind, wie er sich denen vorstellt, die zwar ihre gerichtlich zugesprochene Strafe angesessen haben, aber dann doch wieder auf der Sonnenseite des Lebens landeten… wie er mit denen rechtet, deren Schatten dich noch immer verfolgen, das können wir ihm überlassen. Er ist gerecht, er ist die Gerechtigkeit in Person. Mehr geht nicht. Gott ist dein Anwalt ohne Rechnung. ER vertritt dich und weicht keinen Zentimeter davon ab, Dir zu deinem Ansehen zu helfen. ER hält deine Würde in Ehren, weil er sie selbst begründet hat. Diesem Gott kannst Du alles in die Hände legen.
Und noch ein Gedanke zum Abschluss: Ich bin dankbar, dass Schülerinnen und Schüler des Musikgymnasiums diese Andacht mit ihrem Gesang begleiten. Das ist mehr als ein schöner musikalischer Rahmen. Diese jungen Menschen stellen sich damit Lebensgeschichten und Schicksalen, die weit über ihre eigene Lebenszeit hinaus gehen. Sie könnten ja sagen: „Was geht uns das an? Das war eine andere Zeit, eine andere Welt.“ So wie es heute viele machen, die damals dabei gewesen sind: „Lasst doch endlich die alten Geschichten, irgendwann muss es auch mal gut sein!“ Euch gilt meine Hochachtung, dass ihr der Geschichte nicht ausweicht, sondern euch auch diesen Geschichten aussetzt, euch damit auseinandersetzt. Auch das ist eine Form, Betroffenen Ansehen zu schenken, das ihnen viel zu oft verwehrt wurde.
Lied:
„Gib Friede Herr, gib Frieden“
Fürbitte
So viel erlitten
So oft geweint
So viel verschmerzen müssen
So oft ohnmächtig
So viel Hilflosigkeit.
Zu dir kommen wir, Gott, mit den Geschichte, die uns quälen und/oder uns beschäftigen. Zu dir mit unserer Erinnerung. Wohin denn sonst!
Wir bitten dich für alle, die unter ihren Erinnerungen leiden. Für die, deren Geschichten furchtbar bleiben, so oft wir sie auch erzählen oder ihnen zuhören.
Wir bitten dich für Menschen, die keinerlei Schuldbewusstsein haben. Die anderen furchtbares Leid zufügen, ohne mit der Wimper zu zucken.
Wir bitten dich für alle, die in die Zukunft denken und beraten, wie die Geschichten vor dem Vergessen geschützt werden, auf dass unsere Gesellschaft niemals die von Gestern sei.
Unser Leid.
Unsere Tränen
Unser Schmerz
Unsere Ohnmacht.
Unsere Hilflosigkeit.
Bei dir laden wir ab. Dir legen wir alles ans Herz. Hier hat es einen Ort. Wo denn sonst!
Wir bitten dich: der du „Recht schaffst denen, die Gewalt leiden, Hungrige speist und die Gefangenen freimachst; der du Blinde sehen lässt, Niedergeschlagene aufrichtest und die Gerechten liebst“, wende dich uns zu. Blicke uns an. Deine Gnade leuchte über uns. Amen
Weg-Segen
Keinen Tag soll es geben, da Du sagen musst:
Niemand ist da, der mir hilft in meiner Not.
Keinen Tag soll es gehen, da Du sagen musst:
Niemand ist da, der mich erfüllt mit seinem Trost.
Keinen Tag soll es geben, da Du sagen musst:
Niemand ist da, der mich hält in seiner Hand.
Keinen Tag soll es geben, da Du sagen musst:
Niemand ist da, der mich leitet und begleitet auf allen meinen Wegen – Tag und Nacht.
Sei gut behütet und geschützt.