27.04.2023
Ökumenische Morgenandacht im Thüringer Landtag, 27.04.2023, OKR Dr. André Demut

Ökumenische Morgenandacht im Thüringer Landtag am Donnerstag, den 27. 4. 2023 um 08.30 Uhr
im Raum der Stille des Thüringer Landtags

- Begrüßung Demut
Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. / Amen.
Der HERR ist auferstanden, ER ist wahrhaftig auferstanden, Halleluja.
Wir feiern die Gegenwart des Auferstandenen. Seien Sie alle herzlich willkommen!
- EG 99, 1-3 Christ ist erstanden
- Psalm 66, 1-9 im Wechsel beten (Liedblatt)
- EG 558, 1-2
- Schriftlesung: Joh 15, 1-5 (Kullmann)
Jesus Christus spricht: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass
sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am
Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.
- Auslegung zu Joh 15, 1-5 (Demut)
Liebe Landtagsgemeinde,
wir Menschen verfügen über die Gabe der Vorstellungskraft. Wir können ein Stück weit in die Zukunft schauen und uns vorstellen, wie etwas vielleicht so …. oder vielleicht auch anders kommt. Diese Gabe ist Segen und Fluch zugleich.Es ist ein Segen, dass wir nicht wie eine Eintagsfliege in der unmittelbaren Gegenwart gefangen sitzen. Wir können einen konstruktiven Plan entwerfen und diesen dann Schritt für Schritt in die Wirklichkeit umsetzen. Wir können Gefahren imaginieren und ihnen deshalb rechtzeitig ausweichen. Bei aller selbstkritischen Analyse zum Pandemie-Management jetzt im Jahr 2023 sollte das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden: Verantwortliche in Politik und Zivil-Gesellschaft weltweit haben mit entschlossenem und unpopulärem Handeln große Gefahren von ihren Gesellschaften abgewendet. Eine Gefahr vorauszusehen und nicht zu reagieren ist keine Option. Doch der Fluch dieses Zukunftsblicks ist, dass Menschen sich manchmal so große Gefahren in ihrer Phantasie ausmalen, dass sie in ihrer Gegenwart wie gelähmt agieren und irrationale Dinge tun. Diese Lähmung und diese Unvernunft sind dann nicht Teil der Lösung, sondern Teil der Krise. Auch dies ist während der Pandemie geschehen und es ist gut, wenn jetzt, mit Abstand, darauf kritisch reflektiert wird. Es kann zum Fluch werden, dass wir zukünftige Ereignisse imaginieren können. Dann nämlich, wenn wir uns auf etwas vermeintlich Alternativloses und Unausweichliches so fixieren, dass es schließlich eintritt – nicht, weil es tatsächlich alternativlos gewesen wäre, sondern weil wir davon wie gebannt waren. Self-fulfilling prophesy ist das schöne denglische Wort dazu. Wenn ein Kind Fahrrad fahren lernt, passiert es manchmal, dass es genau auf das eine Hindernis zufährt, das sich auf dem großen freien Platz befindet -
obwohl rechts und links genügend Raum gewesen wäre,um ganz locker daran vorbeizufahren. Der Poller in der Mitte des Platzes scheint über ein Magnet zu verfügen, welcher das Fahrrad anzieht.
Vor einigen Tagen las ich bei Zeit-Online eine Betrachtung zu den politischen Verhältnisse im aktuellen Thüringen. Alles war faktengesättigt korrekt dargestellt und zugleich drängte sich mir der Eindruck auf, dass der Journalist zielstrebig mit seinem Prognose-Fahrrad auf den Poller zusteuert, auf dem zur Landtagswahl 2024 schon alle möglichen Katastrophen aufgepinselt waren. Unsere Vorstellungskraft kann uns beflügeln und unsere Vorstellungskraft kann uns lähmen. Und falls uns die nach vorn gerichtete Vorstellungskraft lähmt, dann müssen wir den Blick auf die freien Räume neben dem Poller richten und fröhlich daran vorbei radeln. Niemand muss mit dem Fahrrad auf den Poller mitten im Raum zusteuern. Diese Fähigkeit, mit unserer Vorstellungskraft in der Zeit zu reisen, benötigen wir jetzt auch fürs Nachdenken über unseren Bibeltext. Dr. Kullmann hat ihn vorgetragen. Diese Rede Jesu Christi – „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ gehört zu den Texten, die in den evangelischen Kirchen am kommenden Sonntag, am Sonntag nach Ostern gelesen und meditiert werden. Wir stehen in der nachösterlichen Freudenzeit – „Jubilate“ ist der Name des kommenden Sonntags. Doch die Rede Jesu versetzt uns zurück in die Karwoche. Es ist eine Abschiedsrede, die hier gehalten wird. Christus steht kurz vor seiner Verhaftung, vor seinem Leiden und Sterben. ER bereitet seine Freunde darauf vor, dass er bald nicht mehr leiblich-real bei ihnen sein wird. Eigentlich ist es keine „Abschiedsrede“, die Christus hier hält. Das, was er sagt, blickt nicht zurück, sondern weit voraus in die Zukunft. Der Christus, den der Evangelist Johannes in der Karwoche zu seinen Jüngerinnen und Jüngern sprechen lässt, blickt weit voraus auf eine neue Art von Verbundenheit mit denen, die ihm nachfolgen. Dieser Christus blickt nicht auf seinen bevorstehenden Tod wie das Kaninchen auf die Schlange. Dieser Christus steuert nicht mit dem Fahrrad seiner Rede auf den Poller zu, an dem ein Schild hängt mit der
Aufschrift: „Der Tod hat das letzte Wort. Die menschliche Niedertracht triumphiert. Der Wille zur Macht um jeden Preis regiert die Welt.“ Keine Frage: Dieser Poller steht schon, gut sichtbar,
mitten im Raum. Christlicher Glaube ist keine kitschige Wünsch-dir-was-Romantik. Christus sieht den Poller mitten im Raum und der Weg ans Kreuz in der Karwoche ist seine Art, es mit den
destruktiven Mächten dieser Welt aufzunehmen. Das Faszinierende an Seiner Vorstellungskraft ist dabei, dass Christus sich konzentriert auf die freien und menschlichen Räume rechts und links neben dem Poller. Auch das Schlimmste – wie das Kreuz – muss nicht neue Höllen gebären. Der hier das Kreuz vor sich sieht, lässt sich davon nicht gefangen nehmen. Er steuert nicht auf den Poller zu – ER blickt über ihn hinweg und an ihm vorbei auf das, was ins Leben führt: - die Verbundenheit mit seinen Jüngerinnen und Jüngern, - und das Wachsen von Früchten, im Bild hier die Reben, die dem Leben dienen.
Was für eine Ankündigung in den Moment, da der Tod, die menschliche Niedertracht und der Wille zur Macht um jeden Preis alles zu dominieren drohen. Der Evangelist Johannes sieht geistlich, was der
Auferstandene zu den verängstigten Jüngerinnen und Jüngern sagen würde, wenn er – der Auferstandene – schon in der Karwoche zu ihnen geredet hätte! Natürlich ist das kein „historischer Bericht“ aus der
historischen Karwoche. Diese Rede Jesu beim Evangelisten Johannes ist der Triumph einer kreativen und konstruktiven Vorstellungskraft, die sich von der scheinbaren Dominanz des Pollers mitten im Raum nicht bange machen lässt. So schön es ist, dass wir nicht wie eine Eintagsfliege in unserer unmittelbaren Gegenwart festsitzen. Beim Gleiten der Vorstellungskraft nach vorwärts und rückwärts gibt es zwei Fallen, in die wir regelmäßig tappen. Die Fixierung auf den Poller ist die erste Falle, das Starren auf negative Prognosen wie das Kaninchen auf die Schlange. Übertragen auf die Christus-Geschichte wäre dies die Annahme, dass sich mit dem Kreuz Jesu jede Hoffnung auf eine menschlichere Welt als törichte Illusion erweist. Jesus Christus fährt mit großer Souveränität an diesem
Poller vorbei. Sein Vater ist der Weingärtner, der diese Welt mit all ihren Disteln und Dornen im Weinberg nicht aufgibt. ER selbst ist der Weinstock, der seine unerschöpflichen Lebenskräfte verströmt an uns alle. Und wir sind mit IHM und untereinander verbunden und bringen viele gute Früchte – nicht aus eigener Kraft und Anspannung, sondern weil die Verbindung mit dem Weinstock und dem Weingärtner fest und lebendig ist. Ein Letztes: Es gibt noch eine zweite Falle beim Bewegen mit unserer Vorstellungskraft in der Zeit. Diese zweite Falle schnappt gern zu beim Blick zurück. Wir haben so eine Art Kausalitäten-Konstrukteur im Kopf, der uns Streiche spielt. Wir tun regelmäßig so, als könnten wir im Nachhinein das Eintreffen besonders schlimmer oder besonders schöner Ereignisse kausal und mit Notwendigkeit „erklären“, wo in Wahrheit Freiheit und Unverfügbarkeit waren. Die Zukunft ist offen – im Guten und, leider auch im Schlechten … und wir entscheiden jeden Augenblick neu, ob wir mit dem Fahrrad gegen den Poller fahren oder fröhlich dran vorbei. Die Christusgeschichte im Evangelium macht das kenntlich. Es war extrem unwahrscheinlich, dass die Geschichte dieses Jesus Christus weitergeht, nachdem er gefangengenommen und von Pontius Pilatus abgeurteilt worden war. Ostern ereignet sich, wie ein schwarzer Schwan, extrem unwahrscheinlich, aus Freiheit und Unverfügbarkeit.
Dieser Jesus Christus begegnet immer neu Menschen – extrem unwahrscheinlich, aber real. Es ist Unsinn, das im Nachhinein kausal begründen zu wollen. Und genau aus demselben Geist der Freiheit und der Unverfügbarkeit hatte sich Jesus Christus beim Blick nach vorn entschlossen, nicht gegen den Poller zu fahren, sondern fröhlich daran vorbei. Lassen Sie uns für alles, was uns so bewegt hier im
kleinen Thüringen um diesen Auferstehungs-Geist der Freiheit und der Unverfügbarkeit bitten. Lassen Sie uns in diesem konstruktiven und kreativen Geist bleiben, wie Reben am Weinstock und getrost
unseren jeweiligen Job machen – niemand muss gegen Poller fahren, auch wenn sie mitten im Raum stehen.

Der Friede Gottes bewahre uns in dieser Verbundenheit und in dieser Freiheit mit Jesus Christus, unserem Herrn.
Amen.
- EG 558, 3-4
- Gebet und Vater unser (Kullmann)
- EG 117, 1-3 Der schöne Ostertag
- Segen (Demut)


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