23.09.2018
Predigt von Pfarrerin Dr. Friederike F. Spengler am 23.09.2018 in Gera
Predigt zum 17. Sonntag nach Trinitatis
Gnade sei mit Euch...
Es war dunkel. Geradezu zappenduster. Die Nacht legte sich die schwer auf Hütten und Zelte. Wer schlafen konnte, floh für einige Stunden ins Land der Träume. Andere wälzten sich auf ihren Matten unruhig hin und her. Die Luft war heiß und stickig. Die Stunden seit Sonnuntergang hatten kaum Abkühlung gebracht.
So war es Nacht für Nacht. Sie konnten sich kaum noch erinnern, dass es je anders gewesen war. Seit vier Jahrzenten waren sie in der Fremde, die Heimat, allem voran das geliebte Jerusalem, weit weg. Die Alten erzählten hin und wieder noch von besseren Zeiten. Von der Schönheit des Tempels, Herzstück der Stadt. Hohe Mauern und verzierte Tore, funkelnde Farbigkeit. Ein Augenschmaus! Der Tempel, durchweht von Musik der Zimbeln, Pauken, Posaunen und Schellen. Durchzogen von den Psalmen über Gottes Macht und Herrlichkeit. Sehnsuchtsort Jerusalem! Zerstört war alles. Aus und vorbei. Auch davon erzählten sie. Wie die feindlichen Horden eingefallen waren mit mächtiger Streitmacht, plündernd und zerstörend. Kein Stein blieb auf dem anderen und was noch übrig war, nahmen die Flammen mit und ließen nur Rauch und beißenden Qualm zurück. Wenn sie ihre Geschichten erzählten, konnte man das Klirren der Schwerter, das Johlen der Soldaten und das Geschrei auf den Straßen beinahe hören.
Nun waren sie in der Fremde, die zweite Generation des Volkes Israel in babylonischer Gefangenschaft. Die Generation der Freiheit war alt geworden, die Kinder der Gefangenschaft inzwischen erwachsen. Was die Alten, erzählten, war märchenhaft weit weg. Sehnsuchtsort Jerusalem? Nie mit eigenen Augen gesehen, keine Bilder, die Sehnsucht zu nähren. Die Musik des Tempels? Nie mit eigenen Ohren gehört, keine Töne, sie weitersingen zu können. Gott? Nie selbst erfahren, ein Gespinst in weiter Ferne. Kein Glaube, der tragen würde. Man hatte sich eingerichtet, so gut es ging. Arrangiert mit den Umständen. Man muss ja irgendwie klarkommen! Keiner zählte mehr die Tage. Und eh man sich versah, wurde aus Jahren ein Leben…
Er liegt in seinem Zelt. Nicht zum Schlafen, sondern auf den Knien. Seine Lippen formen flüsternd Worte, der Oberkörper wiegt sich hin und her. Der alte Mann betet. Seit seiner Wegführung aus Jerusalem hat er damit nicht aufgehört. Damals war er noch ein kleines Kind. Als Sohn frommer Juden hatte er die Worte und Weisungen mit der Muttermilch aufgesogen. Sie begleiteten ihn auf dem Weg der Vertreibung bis ins Exil nach Babylon. Sein Gebet laut auszusprechen, wagte er nicht mehr. Aber nachts, wenn alles schläft, dann sucht er Gott mit seinen Gedanken und in seinem Herzen. Heute ist die Nacht besonders duster. Nicht mal der Mond war zu sehen, als er draußen noch einen Schluck Wasser nehmen wollte. Man sah die Hand vor Augen nicht. Aber das war auch nicht nötig, seine Gedanken brauchten keinen Leuchter und die leise-gemurmelten Wort keine Sterne.
Aber irgendwas ist heute Nacht anders als sonst. Er fühlt sich merkwürdig offen, durchlässig, seine Sinne hellwach. Dann vernimmt er es. Erst ein Ahnen, dann ein Hören: Keine laute Stimme, die da spricht, vielmehr eine ganz tief in ihm. „Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.“ Was? Hat er richtig gehört? „Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde!“ Er muss sich verhört haben, das kann doch nicht sein. Er hält die Luft an. Das kann doch nicht sein! Wieder und wieder horcht er in die Stille. Wieder und wieder hört er die Worte und langsam formt sich aus dem Gehörten ein Lied. Nicht, dass er begreifen würde, was hier geschieht. Nicht, dass er buchstabieren könnte, was ihm gesagt wird. Vielmehr ist er ergriffen. Die lange, viel zu lang gespürte Leere in ihm wird ausgefüllt mit wunderbaren Worten und Gedanken. Sein Körper nimmt die Melodie auf, sein Puls schlägt den Takt dazu. Er sitzt im Dunkel der Nacht und singt. Ja, vielmehr: Es singt aus ihm heraus.
Jes 49,1-6:
1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. 2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. 3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. 4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott.5 Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem HERRN wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, 6 er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.
Sein Lied hat die Enkel im Zelt nebenan geweckt, dann wachen auch die andern auf. Man hört Gemurmel, einige rufen „Ruhe, wir wollen weiterschlafen“. Sein Lied ist jetzt ganz hell und klar, die Melodie fest, die Worte stehen. Langsam erhebt er sich. Er schlägt den Eingang seines Zeltes zurück und singt auf der Gasse weiter. Weithin ist es zu hören, das Lied des Gottesknechtes. Er singt vom sorgenden Gott. Er singt von der Treue, mit der Gott sein Volk begleitet. Er singt von Liebe und Erbarmen, die in die Zukunft führen. Er singt davon, wie Gott um das Vertrauen seiner Kinder wirbt. Er singt das Lied des Glaubens.
Liebe Gemeinde,
„Der Glaube singt sein Lied, auch wenn die Nacht noch dunkel ist“. Der Gottesknecht hat es erlebt. Sein Glaube wird zum Lied für die, die in der Dunkelheit der Nacht ihren Glauben verloren haben. Das Lied des Gottesknechtes beim Propheten Jesaja im 49. Kapitel ist kein historisch-einmaliger Akt. Es gilt uns heute.
Sicher, vieles hat sich verändert, seit Babylon im Jahr 540 v. Chr. Aber geblieben ist die Dunkelheit der Nacht, in der Menschen leben. Dunkelheit im persönlichen Umfeld und in unserer Gesellschaft halten uns vom Schlafen ab: Diagnosen, die der Arzt zwar zugewandt in freundliche Worte verpackte – deren Gehalt aber bleiern auf der Seele liegt. Trauer, die zwar weggedrückt mit viel Geld im kleinsten Familienkreis zelebriert wird – aber deren Konsequenzen dann doch jeder alleine tragen muss. Vereinsamung, der zwar der Markt der unbegrenzten Möglichkeiten mit sozialen Medien einladend zulächelt – aber letztlich alles andere tut, als sozial mit uns umzugehen. Uns beunruhigen Strukturveränderungen in unserer Kirche, wir sehen Engagierte in Ehren- und Hauptamt, die längst an die Grenzen des Machbaren gekommen sind. Wir wissen um die Dunkelheit, wo sich Hass und Gewalt auf unseren Straßen Bahn bricht und bereit ist, für die persönliche Weltsicht Waffen einzusetzen. Wir nehmen Dunkelheit im Zusammenleben unter uns wahr und hören von Individualität und Selbstbestimmung als neuer Weltanschauung. Wir befürchten den Anstieg an Kriegen und deren Folgen, die unübersehbaren klimatischen Veränderungen, die Ungerechtigkeit der Verteilung von Lebens-Mitteln.
Sicher, vieles hat sich verändert, seit Babylon im Jahr 540 v. Chr. Aber geblieben ist die Sehnsucht nach Heil und Leben, nach echtem Trost und neuer Freude. Wir sehnen uns nach dem Glauben, der sein Lied singt, selbst wenn die Nacht noch dunkel ist. Der Gottesknecht weist uns auf diesen Glauben hin: Gott hat Dich und mich von Mutterleibe an berufen (vgl. Jes 49,1). Du kannst dem vertrauen, der bereits unsere Namen wusste, als wir noch nicht geboren waren (vgl. ebd.). Du und ich, wir sind „vor dem Herrn wertgeachtet (bin) und (…) Gott ist (unsere) Stärke“ (Jes 49,5c), so lesen wir es bei Jesaja.
Lieder des Glaubens anzustimmen, haben wir allen Grund: Mit Blick auf die Geschichte des Volkes Israel, seit Jahrtausenden bewahrt und geführt – allen Höllen auf Erden zum Trotz. Mit Blick auf die Geschichte der christlichen Gemeinde, die seit zweitausend Jahren besteht – allen selbstgemachten und fremdgewollten Katastrophen zum Trotz. ER, der Gott Abrahams und Sarahs, ER; der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, hat das Lied des Glaubens in uns geweckt. Sein Wort hat das Volk seiner Wahl gerettet und in die Zukunft geführt. Sein Wort hat der christlichen Gemeinde die Zusage gegeben, dass ihr nicht mal die Pforten der Hölle etwas anhaben können.
Lieder des Glaubens sind stets Verheißung und Auftrag in Einem. Als Verheißung lasst sie uns immer wieder einer dem anderen zu-singen: Gott hat Dich erwählt, ER hat Dich bei Deinem Namen gerufen, Du bist SEIN. In der Taufe wird das Jeder und Jedem ein für alle Mal bestätigt.
Solche Glaubenslieder kann man sich nicht selbst singen. Aber genau dazu ist die Gemeinschaft derer da, die zusammen unterwegs ist: in Gemeinden, im Kirchenkreis, in der Propstei, mit den ökumenischen Partnern... In jeder Begegnung mit dem Wort Gottes werden die Töne neuer Lieder des Glaubens angestimmt, bestärkt, mit Harmonien oder Dissonanzen unterlegt.
Als Auftrag lasst es uns in die Welt hinaussingen. Lasst uns diese Lieder singen gegen das Gedröhn der Angst, gegen das Gekreische der Macht, gegen das Getöse der selbsternannten Herren. Lieder des Glaubens für Nächstenliebe in Wort und Tat, für ein friedliches Miteinander zwischen Religionen und Kulturen, für Respekt unter den Generationen. Lasst uns unsere Lieder des Glaubens singen gegen den Hochmut, unser Geschick nur selbst in die Hand nehmen zu können; für die Demut unserer Kirche, ihren Auftrag zu leben und sonst nichts; für die Weisheit, alles, auch das Altvertraute daraufhin zu prüfen, ob es hier und heute Gott und den Menschen dient; Lieder des Glaubens singen für unsere Gemeinden und alle, die sich dazugehörig fühlen. So werden wir aus Gott heraus als Lichter im Land leuchten. Denn das ist uns zugesagt: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat!“, Amen.
Predigtlied: EG 263, 1-7 „Sonne der Gerechtigkeit“