28.11.2021
Predigt zum Eröffnungsgottesdienst der Aktion „63. Aktion Brot für die Welt: „Eine Welt. Ein Klima. Eine Zukunft.“, zu Jes 23,5-8, Gera, St. Johannis, Regionalbischöfin Dr. Friederike F. Spengler, 28.11.2021

Dr. Friederike F. Spengler, Regionalbischöfin der Propstei Gera-Weimar

Gnade sei mit euch…
Herrscher kommen und gehen. Das Volk bleibt.

Wieviel Hoffnung auf Veränderung, auf Neubeginn und die Herstellung guter Verhältnisse sind im Raum, wenn ein Neuer, eine Neue das Amt antritt. Und wieviel wird gelogen, wenn eine, wenn einer geht. Und dabei ist das Resümee oft ernüchternd.

In Israel im 6. Jahrhundert vor Christi Geburt war das nicht anders. Die Generationen im Königshaus hatten gewechselt, Söhne wurden Thronerben, regierten, starben und wurden beerbt. Nachbarkönige vereinnahmten das Land gewaltsam, bis irgendwann ein neuer König durch einen neuerlichen Krieg die alten Grenzen wieder herstellte. Aber auch das war gestern. Inzwischen war das Volk Gottes in der Verbannung. Die Stadt Jerusalem mit dem Tempel als Gottes Heiligtum nicht nur weit weg – da könnte man ja wenigstens seine Gebetsrichtung daran ausrichten und sich innerlich nach Osten neigen – sondern zerstört. Jerusalem lag am Boden. Es war aus und vorbei. Darin waren sich alle einig: Das wars! Was ihnen blieb, war die Flucht in die Vergangenheit. „Ach, was waren das für gute Zeiten damals.“ Und „Früher war alles besser.“, sagen sie. Auch Resignation kann vereinen, bis heute. Und kollektives Selbstmitleid hat sogar das Zeug, dass es untereinander kurzfristig richtig warm wird. Nur hält es nicht lange. Wie bei einem Strohfeuer: kurzfristig hell und warm, dann qualmt es, dass es einem die Tränen in die Augen treibt und vorbei ist es.

Da stehen sie nun, die Kinder Gottes. Sie sehen und fühlen sich nicht mehr. Nur Schmerz ist in ihnen.

Jetzt braucht es einen, der um Gottes Willen aufsteht. Eine, die die Wahrheit in Worte fasst. Einen, der Gottes Wort in Worte fasst. Jeremia. „Du bist es“, sagt Gott zu Jeremia. „Du wirst mein Wort in Worte fassen und den Leuten sagen. Dich will ich als mein Sprachrohr nutzen, Prophet bist du. Dienstbeginn: sofort.“ „Ach Herr, ich bin doch viel zu jung!“, ruft Jeremia und hofft, dass dieser Kelch an ihm vorübergeht. Doch Gottes Entschluss steht fest. Jeremia: sein Name ist ein Wunsch: ‚Gott möge ihn halten‘ und dann auch eine Erfahrung: ‚ER hält noch fest‘. Wie hätte der Prophet sonst leben können? Berufen und ausgesondert von Gott vor den Menschen, nicht lieben und trösten dürfen, nur zu künden Sein Wort…“1

Jeremia lässt sich rufen. Er ist bereit. Bereit für seine Aufgabe. Jeremia muss hören, angestrengt lauschen. Hinhören. Und dann das, was er gehört, erlauscht hat, als Gottes lebendiges Wort weitersagen. Und was spricht Gott?

5Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. 6Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der Herr ist unsere Gerechtigkeit«.(Jer 23,5-6)

Liebe Gemeinde, mit der beginnenden Adventszeit beginnt Jahr für Jahr das Sehnen nach Gerechtigkeit und Frieden. Die Sehnsucht nach einer Welt, die im Licht lebt. „Macht hoch die Tür“ haben wir im Psalm und im Lied gebetet, mitten hinein in die Erfahrungen von Ungerechtigkeit und Unfrieden im eigenen Land und in unserer Welt: Nach Wochen von Nachrichten, die man sich vom Leibe halten muss, um noch ruhig schlafen zu können und angesichts einer Gesellschaft, die vor Egoismus trieft, spricht der Prophet Jeremia von Gottes Gerechtigkeit. Er will ihr Gestalt geben. Gerechtigkeit soll nicht mehr nur ein frommes Wunschbild sein, das jeder anders für sich füllt. Gerechtigkeit soll wirklich kommen. Soll in Person, soll ganz persönlich da sein. In einem, der sie lebt und ausführt. Einer, der ein guter Herrscher, ein guter König ist. Gerechtigkeit ist nach dem Verständnis der Bibel der Zustand, in dem jeder das zum Leben hat, war er braucht. Und sofort wird klar, dass dazu viel mehr gehört als ein Sack Mehl und ein Krug mit Öl. Sofort wird klar, dass hier die Lebensumstände mitgemeint sind: Das Leben in Frieden und in Freiheit. Das Zusammenleben mit den Tieren. Der Zugang zu sauberem Wasser, sauberer Luft und Erde. Von Anfang an sind die Gebote und Gesetze für Israel so formuliert, dass der Mensch mit allem Zugehörigen im Blick ist: Brach-Zeiten für die Felder, Liegenlassen von Erträgen als Erholungszeiten. Veränderung von Besitzverhältnissen zum Schutz vor Armut in festgelegten Abständen. Ruhezeiten für Mensch und Tier. Regelungen von Erstgeburten mit klarer Anbindung als Gott als den Schöpfer, der hinter allem steht, was da lebt und webt.

Im ersten Buch Mose wird uns in einer Schöpfungsgeschichte erzählt, wie Gott den Menschen als Herrscher ausruft. Und über Jahrhunderte haben wir diesen Auftrag Gottes an uns als Argument für den Raubbau an der Schöpfung gelesen. Dabei ist das Gegenteil gemeint! Für Recht, Gerechtigkeit und ein gutes Leben aller zu sorgen, das ist Aufgabe des Herrschers! Ein guter Herrscher zeichnet sich allein dadurch aus, dass er in Verantwortung vor Gott den ihm anvertrauten Menschen zu Frieden, Gerechtigkeit und einem heilvollen Zusammenleben mit der ganzen Schöpfung verhilft. Und so ist die gegenwärtige Rede, die wir hier und da politisch aufgerüscht hören: Es gäbe Wichtigeres als den Klimawandel, eine gotteslästerliche Lüge! Es gibt keine nachgeordneten Probleme, wo es um die Grundlagen menschlichen Lebens auf unserem Planeten geht. Kein Mensch kann in Frieden leben, wenn die Welt um ihn herum zum Himmel stinkt, die Pole schmelzen und Ackerland zur Wüste verdorrt. Das Gleichgewicht zu halten zwischen dem, was wir brauchen und dem, was wir haben: das ist königliches Recht und Aufgabe!, und zwar im Blick auf den Einzelnen und im Blick auf die Weltgemeinschaft.
 In der Ursprache des Alten Testamentes heißt Gerechtigkeit „zedaka“ und meint weit mehr, als dass alle eine gleiche Verteilung von Lebensmitteln und Schulheften zukommt. „Zedaka“ ist ein Begriff, der ein Verhältnis untereinander beschreibt. „zedaka“ zielt darauf, dass ich diejenigen unterstützen soll und muss, die nicht selbst ihr Recht einfordern, es nicht selbst für sich erwirken können. „zedaka – Gerechtigkeit“ heißt.: „Ich werde einer anderen Person gerecht“.

Ihr Lieben, was wäre das für ein Leben, wenn wir einander gerecht würden!
Ja, und genau das ist Gottes Plan für uns: Leben so zu gestalten, dass wir einander gerecht werden. Das fängt schon einmal damit an, dass wir die Wahrheit sagen, wahrhaftig leben. In Übereinstimmung also mit dem, was ich und du sagen und was ich und du tun. Damit fängt sie an, die Gerechtigkeit.

Jesaja verheißt einen neuen König. Einen, der Helfer ist und mit Milde und Zuneigung zu seinem Volk kommt. Dessen Königskrone nicht mit Gold aufgewogen ist, sondern in Verbindung zu Gott besteht. Dessen Zepter Barmherzigkeit ist und der aller Kreatur zu ihrem Recht verhilft. Im Evangelium haben wir davon gehört, wie dieser König Jesus Christus aller Etikette trotzend auf einem jungen Esel nach Jerusalem einreitet und nicht zum Kampf gegen die römische Besatzungsmacht aufruft, sondern sich selbst ausliefert. Nicht umsonst ist das Evangelium vom 1. Advent dasselbe wie das am Sonntag vor der Karwoche: Es geht in den Tod. Denn die Welt hat es nicht begriffen, dass dieser der König ist. Der von Gott Gesandte. „Er kam in sein Eigentum, doch die Seinen nahmen ihn nicht auf“. Jesus lieferte sich der Ungerechtigkeit der Menschen aus und ließ sich behandeln wie die geschundene Kreatur unserer Erde. Wir schlugen ihn ans Kreuz, sahen seinem Sterben zu und meinten, uns einen Gefallen damit zu tun. Er hat unsere Erwartungen nicht erfüllt. Jesus hat mit seinem Leben, mit jeder Tat „zedaka“ – Gerechtigkeit in die Welt gebracht. Er wurde uns gerecht. Seither ist Gerechtigkeit kein Traum von armen Spinnern und Phantasten, sondern gottgelebte Realität. Mit Jesu Auferstehung und Himmelfahrt ist uns versprochen, dass er wiederkommen wird und das Reich von Gerechtigkeit und Frieden inmitten der gesamten Schöpfung vollendet. Bis dahin sind wir aufgefordert, dieses Ziel Gottes nicht aus den Augen zu verlieren. Die Hoffnung darauf nicht aufzugeben. Seine Zusage wachzuhalten. Alles, was Jeremia damals dem erwählten Volk ausrichtet, ist auf Zukunft ausgerichtet und gilt auch uns.

Jeremia sagt:
7Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der Herr lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«, 8sondern: »So wahr der Herr lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen. (Jer 23,7-8)

Jeremia spricht damit auch zu uns. Das wichtigste, das uralte Bekenntnis Israels, dass Gott der Gott ist, der die Vorfahren aus der Gefangenschaft in Ägypten herausgeholt und in ein freies Land geführt hat, wird aktualisiert. Nichts ist davon von gestern, sagt Jeremia. Und wir sind mitgemeint. Seine Zusage hat die Menschen an den Außengrenzen Europas ebenso im Blick wie die im Sudan und in Syrien. Seine Aufforderung, auf seine Gerechtigkeit zu setzen und diese in Verantwortung vor ihm zu leben, gilt Sympathisanten aller Parteien und Gruppierungen von Links bis Rechts. Seine Gerechtigkeit, und auch das haben die Rabbinen mit Blick auf die Prophetenworte immer und immer wieder gelehrt, wartet darauf, dass wir das Unsere dazu beitragen. Wir werden keine endgültige Gerechtigkeit auf Erden herstellen können, aber wir haben um Gottes Willen die Pflicht, alles in unserer Macht Stehende zu tun, dass sie möglich wird!

Ja, Gott wartet und antwortet auf verantwortliches Tun. Und so, wie Jeremia das Hier und Jetzt mit hineinnimmt in das Versprechen Gottes, ist alles Gesagte nicht von Gestern, sondern von Heute und Morgen. Gott ist Präsenz! Er wirkt jetzt. Er kommt heute. Er ist da. Bei dir.

Vielleicht, Ihr Lieben, ist es die Aufgabe von Kirche im Advent 2021, in aller Dunkelheit, in Kriegen, Zerstörung, Hunger, Armut, Bedrohung und Angst, zu hören, zu hoffen, zu vertrauen und zu sagen: „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer!“

Gottes Zeit kommt uns entgegen. In dieser Erwartung will ich leben. Amen

Und die Gerechtigkeit Gottes, die unser Denken und Tun bei Weitem übersteigt, kehre in Eure Herzen ein und lasse Eure Seele aufatmen.


 1 Gerhard Begrich, Namen und Namensgeschichten in der Bibel, 166.


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