29.03.2020
Predigt zum Sonntag Judika von Regionalbischöfin Friederike Spengler (29.3.2020)

„Jesus hat, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Liebe Schwestern und Brüder,

es gibt Sätze, die sind ganz eng mit Situationen verbunden. So, als wären sie dafür gemacht. Man kann die Augen schließen und beim Hören entsteht sofort ein Bild. Oder ein Geschmack auf der Zunge. Oder ein Gefühl im Bauch. Sätze, die man auch im Dunklen wiederfinden würde, so eindeutig gehören sie an einen bestimmten Ort.

Beim Hören auf die Verse aus dem Hebräerbrief, sehe ich Kreuze vor mir: Zum einen das Kreuz, an dem Jesus starb. „…gelitten draußen vor dem Tor“. Der Satz schmeckt nach Passionszeit. Nach Karfreitag. Es ist ein dunkler Satz auf dunklem Hintergrund. Selbst der Himmel soll an diesem Tag dunkel gewesen sein. Und ich sehe Kreuze auf den Gräbern vor den Toren von Kirchen und Friedhofskapellen. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt…“ Ein Satz, der zu Beerdigungen gehört, Teil der Ermahnung ist, die uns jeder Tod sein soll: Bedenke: Das Leben ist flüchtig. Wir haben hier keine bleibende Stadt…“ Und vielleicht, liebe Zuhörende, haben Sie ähnliche Bilder, Gedanken und Gefühle dabei.

Es gibt Sätze, die sind ganz eng mit Situationen verbunden. So als wären sie dafür gemacht. Ich höre, schmecke, fühle diese Sätze allerdings so, weil ich, wie die meisten von Ihnen in Deutschland geboren bin, zu einer bestimmten Generation gehöre und Christ bin. Legt man dieselben Sätze Menschen vor, die  zu anderen Zeiten oder an anderen Orten und mit einer anderen Hoffnung leben, dann haben diese bei denselben Sätzen andere Bilder, Gefühle, einen anderen Geschmack auf der Zunge.

Der Schreiber des Briefes, über dessen wenige Sätze wir heute in der Predigt nachdenken, schreibt an eine Gemeinde vor fast 2000 Jahren. Vielleicht leben die Adressaten in Italien, aber das ist nicht sicher. Aus dem Inhalt des Schreibens wird klar, dass hier Menschen angesprochen sind, die einen großen Schatz an Glaubenserfahrungen haben. Menschen, deren Heilige Schriften das waren, was für uns heute der erste Teil der Bibel – das Alte Testament ist. Sie leben als Christen, ihre Herkunft aus dem Judentum aber ist in ihnen lebendig. Die Geschichten der Väter und Mütter im Glauben sind ein Stück von ihnen selbst. Ihre Feste sind Teil des Alltags, ungebrochen die Verbindung zur Geschichte Israels. Sie hörten also wie wir: „Jesus hat, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Und ihr inneres Bild ist das vom Hohepriester am Jerusalemer Tempel. Es ist Versöhnungstag. Stellvertretend für das Gottesvolk bittet der Hohepriester um Vergebung und opfert dabei ein Opfertier. Das Opfertier ist Gabe für die Verfehlungen der Menschen. Versöhnt, entschuldet lebt es sich leichter. Juden aller Zeiten haben den Versöhnungstag in einem Fest enden lassen. Freude - das Gefühl im Bauch, Erleichterung als Geschmack auf der Zunge. Der Schreiber des Hebräerbriefes weiß um Bild, Gefühl und Geschmack seiner Zuhörer. Und er knüpft genau an dieser Stelle an: „Hört doch“, sagt er, „Der Hohepriester hat jedes Jahr am Versöhnungstag das Opfer für alle dargebracht. Jesus ist für uns Christen der Hohepriester. Und dieser opfert nicht einmal im Jahr für die Kinder des jüdischen Volkes, ER opferte sich selbst für die Kinder der ganzen Welt. Kein weiteres Opfer mehr! Das Opfer ist gebracht. Ihr gehört dazu. Erlöste und Befreite seid ihr. Das, was wie eine große Schmach aussah: Elend und Leid unseres Herrn auf seinem Weg ans Kreuz; das, was wie ein Scheitern aussah: der letzte Schrei und das fürchterliche Sterben: Es ist vollbracht! Ein für alle mal, kein Opfer mehr! Das Opfer ist vollständig, Ihr seid erlöst!“

Liebe Hörerinnen und Hörer, passen meine, ihre Bilder und die der judenchristlichen Gemeinde zusammen? Die Dunkelheit der Kreuze auf Golgatha und auf unseren Gräbern und die Freude über das einmalige Opfer, die Erleichterung über das Leben ohne den Druck von Schuld und Sünde? Für mich bleibt eine Spannung, und ich will sie nicht einfach wegbügeln. Ob es damals für die Gemeinde einfacher war, mit dieser Spannung zu leben; damals, dreißig, vielleicht vierzig Jahre nach Jesu Kreuzigung und Auferstehung? Waren die Menschen näher dran? War Gott ihnen näher?

Wo ist Gott in unserer Welt? Draußen? Wo ist ER, angesichts der Pandemie, die um sich greift und täglich neue, höhere Zahlen von Erkrankten und Toten hervorbringt? Wo ist Gott in unserer Welt? Weit weg? Draußen vor den Toren? Nein, keine vorschnellen Antworten. Dazu ist die Frage zu ernst. Gehen wir vielmehr gemeinsam auf die Suche nach Gott in unserer Zeit. Dazu stellen wir uns der Spannung: der Spannung zwischen dem leidvollen Kreuz in der Passion Jesu und den Passionen unseres Lebens auf der einen Seite und dem freudig-erleichternden Gefühl, alle Schuld los zu sein, auf der anderen Seite. Gehen wir also einen Schritt nach dem anderen und hören dabei genau hin: „Jesus hat, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Aus dem jüdischen Zusammenhang wissen wir vom Opfer durch den Hohepriester am Versöhnungstag IN den Toren. Im Inneren, im Tempel wurde die Aussöhnung der Israeliten mit Gott gefeiert. Das, was hier geschah, galt dem auserwählten Volk. Damit, dass Jesus draußen vor den Toren gekreuzigt wurde, damit, dass Jesus sich draußen vor den Toren opferte, ist nun nicht mehr nur das Volk Israel gemeint, sondern das Volk allgemein. Aus dem Opfer für die Israeliten in den Toren wird das Opfer für alles Volk draußen! Gott ist nicht nur im Tempel, nicht nur in Domen und wunderbaren Kirchen, Synagogen und Kapellen. „Der Himmel und aller Himmel Himmel können dich fassen, wie sollte es dann dieses Haus tun?“ (1 Kön 8,26) Hier, draußen, abseits der Aufmerksamkeit, ist Gott. Hier, abseits von dem uns zu oft vorgegaukelten Bild eines erfüllten Lebens: in guter Gesundheit, mit Schönheit und Kraft bis ins Alter, erfolgreich im Beruf, anerkannt in der Gesellschaft, mit liebender Familie um sich herum. Gott kommt in Christus aus der Sicherheit des „Drinnen“ in die Unsicherheit des „Draußen“. Er geht aus den gutgebauten Häusern an die Ränder: damit es keine Zaungäste des Lebens gibt. Damit Menschen nicht am Rande der Gesellschaft stehen. Damit keiner nur Zuschauer sei. Hier  - draußen  -  Gott.

Ihr Lieben, habt Ihr noch die Lesung von Mose und dem Zelt im Ohr? „Mose aber nahm das Zelt und schlug es draußen auf, fern von dem Lager, und nannte es Stiftshütte. Und wer den Herrn befragen wollte, musste herausgehen …vor das Lager. (…) Der Herr aber redetet mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet.“ (aus Ex 33). Draußen. Im Draußen begegnet Mose Gott. Wie einem Freund tritt er ihm gegenüber, offenbart sich in Nähe und Begegnung. „Gott ist nicht an einen Ort gebunden (Nathan Peter Levinson, 1963) Er wohnt unter uns. Dort, wo Beziehungen zwischen Mensch und Mensch bestehen, da thront Gott. Gott wohnt auch nicht im Menschen. Derjenige, der Gott nur in sich zu finden meint, der sich von der Welt und seinen Geschöpfen zurückzieht, der meint, fromm nur sein zu können in der Einsamkeit und in der Wüste, der hat Gott noch nicht vollkommen erfahren. Sicher, wir brauchen Atempausen zur Besinnung, wir müssen uns sammeln, auch von Zeit zu Zeit zu uns selbst finden. Das aber ist kein Selbstzweck. Es kann nur dazu dienen und neue Kraft geben, um wieder hinauszuziehen in die Welt, die die Welt Gottes ist.“

Wo ist Gott in dieser Welt? Dort, wo wir ihn am wenigsten erwarten. In der Einsamkeit von Kontaktsperre und Quarantäne. Draußen vor dem Tor, im Abseits des Lebens ereignet sich das Heil. Gott ist da: An den Betten der Kranken und Sterbenden. An der Seite der Pflegenden. Bei den Fragenden und Zweifelnden. Er sitzt am Tisch mit den Familien, in denen der Hausfrieden gerade ganz schön angespannt ist. Er streicht den Weinenden über die Wange und legt den Trauernden seinen Arm wie einen warmen Mantel um.  „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Wenn Jesus sein Opfer vor den Toren, im Draußen gebracht hat; wenn Gott Mose draußen, außerhalb des Lagers auf Du und Du begegnet, dann tritt zu diesem Satz ein neues Bild, ein neues Gefühl, ein neuer Geschmack. Es bleibt nicht bei der Trauerfeier, sondern wird zum Zukunftswort! Es verspricht: Gott hält eine solche Stadt für euch bereit! Und wir als Gemeinde sollen und dürfen Zeichen, Hinweisschild und Navigationsgerät auf dem Weg dahin sein. Jedes Gebet für den Anderen, jeder Anruf bei Einsamen, jeder Glockenruf, jedes Abendlied über der Stadt, jede Kerze am Fürbittleuchter dieser Kirche – Hinweis auf die Zukunft, die Gott für uns bereithält. Jede Nachbarschaftshilfe, jedes freundliche Nachfragen, Zuwinken, Aneinander Denken, jede Andacht im Netz oder auf CD  – ein Schritt auf dem Weg. Gemeinde Gottes ist unterwegs. Wanderndes Gottesvolk damals und heute. Nein und nochmals nein, es gibt keine gottverlassenen Orte, Stunden, Situationen. Gott ist vom Drinnen nach Draußen unterwegs. Uns entgegen.

Amen

 

 

 

 


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