12.06.2022
Predigt zur Glockenweihe, Sondershausen – Trinitatis, 12.06.22 zu Röm 11,32-36, Regionalbischöfin Dr. Friederike Spengler

Was für ein wunderbares Geläut haben wir heute gehört! Vier Glocken sind es nun im Turm.

Jede von ihnen in besonderer Form und Größe, mit bronzenem Glanz, einem Relief und einer Zier, die sie mit dieser Kirche, dieser Gemeinde verbindet.

Da ist die alte Gebetsglocke aus dem Jahre 1623. Eineinhalb Tonnen schwer legt sie im Schlagton „d“ für „Dominus“ – HERR – den Adressaten der Gebete ganz klar fest. Verweist uns dahin, dass „Unsere Hilfe vom HERRN kommt, der Himmel und Erde gemacht hat.“ So beginnen wir auch in gegenseitigem Bekennen unsere Gottesdienste.

Die kleine Friedensglocke wurde nach dem 1. Weltkrieg in der Hoffnung und Sehnsucht nach friedlichen Zeiten gegossen. Sie erhebt mit dem Schlagton „f“ für „Frieden“ den höchsten der vier Schlag- oder Grundtöne und ist mit einem Gewicht unter einer Tonne die Kleinste und Zarteste im Glockenstuhl. Nomen est omen: Der Frieden, den auch wir gerade wieder angegriffen und höchst gefährdet erleben, ist es auch.

Dann die Segensglocke, gestiftet in liebevollem Gedenken an den viel zu früh verstorbenen Stefan Christoph Nickel - +1995). Heute allen zum Segen, die ihren Klang hören. Die Glocke wurde bereits im Jahre 2018 mit Schlagton „e“ wie „Erinnerung“ gegossen und nun geweiht.

Zuletzt die jüngste und gleichzeitig schwerste und tonal tiefste Ewigkeitsglocke aus dem Jahr 2020, heute geweiht, versehen mit der Aufschrift: „Alles ist eitel, du aber bleibst … “ – schwingt sie für die in die Jahre gekommene Stahlglocke, die jetzt als Mahnmal an die Bombardierung von Sondershausen im April 1945 erinnert. Von ihr geht der Schlagton „h“ wie „Himmel“ aus. Der Ewige – gelobt sei sein Name – ist von Ewigkeit zu Ewigkeit der sich treubleibende Gotte. In diese Ewigkeit sind wir alle hineingeliebt.

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Glocken bestimmten über Jahrhunderte den Tagesablauf der Menschen. Klöster und Kirchen hatten teilweise die einzigen Zeitmesser in der ganzen Region und gaben mit dem Klang der angeschlagenen Glocke dem Tag, der Woche den Rhythmus, sie gaben Nachrichten weiter, warnten vor Unwetter und Gefahr. Die Bedeutung aber reicht weit darüber hinaus.

Ihr Ton ist weithin hörbar und lädt ein, innezuhalten, die Arbeit zu unterbrechen, Stille zu halten, damit Gott Raum bekommt. Glocken rufen zum Gebet. Sie laden zum Gottesdienst ein und erinnern daran, dass Glaube, Hoffnung und Liebe das Fundament unseres Lebens sein soll.

Jede Glocke ist ein eigenes Instrument. Gestimmt auf den einen Schlagton, der mit den denen der anderen Glocken ein farbenprächtiges Geläut entfacht. Ihr Klang aber hat viel mehr als nur einen Ton zu bieten. „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Glocken bringen mit ihrer Vielzahl von Tönen die verschiedenen Nuancen zu Gehör, die beim Anschlagen in Bewegung gebracht werden.

Glocken faszinieren, weil ihr Klang auf wundersame Weise unser Leben begleitet:
So erklingen sie zur Taufe eines Kindes oder Erwachsenen, am Anfang des Lebens- und Glaubensweges und/oder zur Hoch-Zeit der Liebe. Sie begleiten uns zugleich durch die Woche mit ihren Werk- und Feiertagen UND an bedeutenden Wegmarken unseres Lebens. Auch der letzte Gang mit dem Segen für den Weg des Verstorbenen in Gottes Ewigkeit, erhält durch ihren Klang ein besonderes Gepräge, Richtung und Ziel.

In mittelalterlicher Bezeichnung hieß die Glocke „signum“- „Zeichen“, davon abgleitet unser deutsches „segnen“. Zugesprochen am Ende jedes Gottesdienstes und noch lange hörbar über den Klang der Segensglocke, auf der als Glockenzier steht „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“ Gott begleitet dich. Gerade dann, wenn du vor lauter Tränen in den Augen und Schmerz im Herzen kaum einen Schritt vor den anderen setzten kannst. „Du sollst ein Segen sein.“ Ganz gleich, ob du gerade die Hölle auf Erden erlebst oder über das ganze Gesicht strahlst vor Glück und Energie.

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Glocken sind groß und schwer. Nicht mal zehn Mann könnten die kleinste hier hochheben. Und dennoch sind sie schwach, können sich nicht selbst der Gewalt erwehren. In der ersten Hälfte des 20. Jh wurden sie zu Hunderten von den Kirchtürmen geholt, zerschlagen und eingeschmolzen, um Munition für Kriege aus ihnen herzustellen. Nach 1945 lagen auf riesigen Glockenfriedhöfen in Hamburg, Harburg und Oranienburg mehr als 13 000 Glocken, die für die Verhüttung vorgesehen waren. Man schmiedetet – um das berühmte Friedensbild der Propheten zu bemühen – nicht Pflugscharen aus Schwertern, sondern umgekehrt Schwerter aus Pflugscharen, oder eben Granaten aus Glocken. Was für eine bestialische, böse Macht des Menschen kommt da zum Vorschein, wo aus Kündern des Friedens, des Segens, der Ewigkeit und Rufern zum Gebet, Instrumente des Terrors gemacht werden!

Liebe Gemeinde, die Abgründe der Menschen und die Unergründlichkeit, ja Fremdheit Gottes waren auch für Paulus zentrale Themen. Dem großen Theologen und Gemeindegründer der ersten Stunde war kein Rätsel fremd. Der Predigttext, der für den Sonntage Trinitatis vorgesehen ist, setzt am Ende des 11. Kapitels im Römerbrief ein. Paulus hat über lange Passagen darüber nachgedacht, wie Jesus als Sohn Gottes in die Welt kam. Wie er „in sein Eigentum kam und die Seinen ihn nicht aufnahmen“. Paulus musste auch streiten. Die Verse heute stehen am Schluss einer ausführlichen Streitschrift. In ihr ging es um die bleibende Erwählung Israels. Zu seiner Zeit gab es nicht wenige, die verbreiteten, die Juden hätten ihren Platz als Kinder Gottes der ersten Stunde vergeigt. Sie wären aus der Liebe und Zuwendung Gottes herausgefallen, weil sie in Jesus nicht ihren Messias sehen. Als ob Gott seinen Augapfel antasten ließe! Natürlich ist und bleibt das Volk Israel das erwählte Volk, der erste Bund besteht bin in Ewigkeit. Dafür steht Gott selbst ein. Aber der Geschichte nach-zu-denken ist alles andere als ein Spaziergang auf den Sohlen der Logik. Wie ist das zu begreifen, wie zu erzählen? Warum geht Gott mit dem Volk des ersten und ewigen Bundes eigene Wege und die nachösterliche Gemeinde kommt einzig und allein durch Jesus auf den Weg der Wahrheit und des Lebens?

Paulus hat viel darüber nachgedacht. Sein Fazit: Es ist und bleibt ein Geheimnis. Es bleibt Gottes Geheimnis. Wir können Gottes Gedanken nicht nach-denken, können nicht begreifen, was und wie er ist. Das Geheimnis Gottes ist nicht zu verstehen, sondern anzubeten.

So formuliert Paulus also in anbetender Haltung folgende Sätze:
32     Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.
33    O welch eine Tiefe des Reichtums,
beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
34    Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt,
oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13)
35    Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben,
dass Gott es ihm zurückgeben müsste?« (Hiob 41,3)
36    Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.


Wenn ich das lese, fällt mir gleich noch Matthias Claudius ein. „Seht ihr den Mond dort stehen, er ist nur halb zu sehen, und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.

Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel.“

Paulus und Claudius halten uns den Spiegel vor: Begrenzt ist unser Geist. Endlich unser Hirn. Eingeschränkt unser Vorstellungsvermögen. Das können wir bedauern und daran arbeiten, dass es sich ändert – wir können sogar so tun, als würde dieser Umstand durch den Einsatz künstlicher Intelligenz ein anderer – aber darum geht es Gott gar nicht. Gott selbst führt uns in sein Geheimnis, in seinen Herzschlag ein. Hier aber haben wir nicht altklug oder neuklug zu argumentieren, sondern staunend anzuerkennen: „Mein Herr und mein Gott!“

Vom Kirchenvater Augustinus wird erzählt, dass er eines Nachts einen Traum hatte.
Er ging am Ufer des Meeres entlang und sah ein Kind sitzen. Das hatte eine kleine Vertiefung in den Sand gegraben und schöpfte mit einer Muschel aus dem Meer Wasser in den Graben. Augustinus blieb stehen und fragte: „Was machst du denn da?“ Das Kind erwiderte: „Ich will das Meer ausschöpfen.“ Da lachte Augustinus: „das wird dir nie gelingen. Da hast du dir etwas ganz Unmögliches vorgenommen.“ Da wandte sich das Kind um, schaute Augustinus mit leuchtenden Augen an und sagte zu ihm: „Und du willst mit deiner menschlichen Vernunft, mit der Schale deines Gehirns, das Geheimnis Gottes ergründen?“

Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken. Sowohl seine Gnade als auch seine Entscheidungen sind unerforschlich. Rätselhaft? Ein Rätsel verlangt nach Lösung und rechnet damit, dass es auf Fragen eine Antwort gibt.
Doch Gott ist kein Rätsel, das man lösen könnte.

„Wer hat des Herrn Sinn erkannt oder wer ist sein Ratgeber gewesen?" - zitiert Paulus aus dem Buch des Propheten Jesaja.
Nein, wir können nicht Gottes Ratgeber sein.

Oder „wer hat ihm etwas zuvor gegeben, so dass Gott es ihm zurückgeben müsste?“
Glaubende sind keine Gläubiger und Gott steht nicht in unserer Schuld.

Es gibt nichts, worin wir mit Gott rechten könnten, worauf wir ein Recht hätten und was wir bei ihm einklagen könnten.
Es gibt kein Schema F, in das wir Gott und sein Tun einordnen könnten. Wie kann ich das fassen? Kein Wunder, dass selbst Paulus der Atem stockt!

Aber er verstummt nicht. Vielmehr geht er mit dem Schöpfer der Welt ins Gespräch, geht ins Gebet.
„O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!
 - Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme –
Von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge, ihm sei Ehre in Ewigkeit.“

Auf dass er sich aller erbarme.
Das halte ich in meinem Herzen fest!
Das ist der strahlende, durchdringende Schlagton, das Leitmotiv, dem sich alle anderen Töne unterordnen, die in unserem Leben aufklingen.
Und ja, da gibt es zweifellos sehr harte Klänge und schwer erträgliche Tonfolgen, schmerzhafte Dissonanzen, die unerträglich sind.

Auf dass er sich aller erbarme.
Das höre ich als letzte, tröstende Wahrheit: Die letzte Absicht Gottes mit uns ist nicht Strafe, sondern Erbarmen.

Auf dass er sich aller erbarme.
Das gilt dir und mir. Darauf vertraue ich. Daran halte ich mich fest. Gerade dann, wenn ich vor lauter Dunkelheit den Weg nicht sehe.
Mit Paulus bekenne ich: kein Mensch kann Gott begreifen.

Aber Gott kommt uns nahe und begegnet uns mit einer Liebe, die letztlich unwiderstehlich ist.

In diese Liebe laden uns die Glocken bei jedem Läuten ein. So möge es auch hier in Sondershausen sein und bleiben.

Amen
Und der Friede Gottes…


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