18.09.2020
Ansteckende Sanftmut
Straßenbahnhaltestelle Nummer 9. Ich steige um. Die Menschen sind schweigsam, wie das so ist in diesen Zeiten. Eine junge Mutter mit medizinischem Mundschutz schaut konzentriert auf ihr Smartphone. Neben ihr ein kleiner, blonder Kerl, ungefähr drei Jahre alt. Er zieht die Mutter an der Umhängetasche, sie schüttelt ihn ab. Dann bewegt er sich zum übervollen Haltestellenpapierkorb und fischt dort eine Zigarettenkippe heraus. Lass das, die Mutter gibt ihm unwirsch eines auf die Hände. Sie tippt etwas in ihr Handy. Er ist traurig, ich sehe es ihm an.
Nach einer Weile hebt der kleine Kerl einen weiß glänzenden Stein auf, den er der Mutter entgegenhält. Für Dich Mama, ist der Stein nicht schön?
Lass mich endlich in Ruhe, herrscht sie ihn an. Kann ich nicht einmal ein paar Minuten für mich haben? Der Stein fliegt auf den Boden. Und ich entdecke in den Augen der Frau Müdigkeit und Überforderung.
Der Junge lässt die Schultern hängen. Er steht still, wie eine kleine Statue. Doch nach einem Moment löst er sich wieder aus dieser Haltung und kuschelt sich an die Beine seiner Mutter. Mama, sagt er, Mama, ich habe dich so lieb.
Die Frau nimmt die Wärme am Bein wahr. Sie hört die Worte ihres kleinen Kindes. Sie schaut auf und klappt das Smartphone zu. Sie steckt es in die Tasche. Bückt sich zu ihrem Kind und streichelt dessen Gesicht. Ich hab dich doch auch lieb, sagt sie vernehmbar. Beide lächeln sich an. Der Tag ist gerettet. „Glücklich sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen“. So sagt es Jesus. Ich stimme ihm gerne zu. Amen. So soll es sein. Hofft Gabriele Herbst aus Magdeburg.