15.04.2024
Ich habe Zeit für dich
Eine Kollegin hat sich kürzlich aus Pappe ein Schild gemalt mit der Aufschrift „Ich habe Zeit für Sie“, setze sich mittags auf die Bank vor der Kirche und wartete einfach. Die ersten Passanten schmunzelten und gingen langsam weiter, doch nach kurzer Zeit fragte ein älterer Herr „Ist das Ihr Ernst? Stimmt das?“ Sie nickte, und schon saß der Herr neben ihr auf der Bank. Mit etwas Abstand und doch so, dass man ihn gut hörte, und begann zu erzählen. Meine Kollegin hörte ihm zu und sagte selbst sehr wenig – wichtiger waren ihre Gesten und ihr aufgeschlossener Blick. So erfuhr sie, die fremde unbekannte Frau, sehr viel, was den Herrn persönlich beschäftigte und worüber er sich Sorgen machte. Während der Herr noch seine Geschichte erzählte, wartete schon eine jüngere Frau mit einem schönen bunten Kopftuch. Als der Herr schließlich nach über 20 Minuten aufstand und meiner Kollegin vorsichtig die Hand gab, setzte sich die jüngere Frau zu ihr und fragte und fragte...
Der Sinn dieser Übung ist ein einfacher – meine Kollegin registrierte, dass nach Corona immer weniger Menschen zu Veranstaltungen kamen und sie als Seelsorgerin immer weniger direkt angesprochen oder angerufen wurde – zwar wohnt sie klassisch in einem idyllischen Pfarrhaus – aber in den 13 übrigen Orten, die zu ihrem Seelsorgebezirk gehören, ist sie ja eher selten an Werktagen zu sehen. Für mich macht diese Übung deutlich: Ähnlich wie in der Telefonseelsorge sind unsere Mitmenschen dankbar, wenn jemand da ist, zuhört und Zeit für sie hat. Zuhören mitten im Alltag – ohne große Anmeldung – einfach drauf los reden können. Und eigentlich machte meine Kollegin nichts anderes, als das was Jesus auch tat: Er ging auf die Straßen und belebten Plätze und hatte Zeit. Er hörte zu – gerade denen, denen niemand gern zuhören wollte.
Genau dafür sind wir da.
Johann Schneider, evangelischer Regionalbischof aus Halle
