28.01.2023
Sehen und Gesehen-Werden
Ein grauer Morgen Anfang Januar. Ich sitze in einem Regionalzug Richtung Norden, habe einen Krankenbesuch bei einer Freundin vor mir und fühle mich irgendwie einsam. An den Zugfenstern schmutzige Regentropfen. Das Großraumabteil, in dem auch Fahrräder mitgenommen werden können, ist dicht bei dicht besetzt. Alle tragen FFP2 Masken. Und fast alle starren gebannt auf ihre Handys. Wie war das früher eigentlich so in den Zügen, ohne Masken, ohne Handys? Ich will nichts verklären, aber ich kann die Sehnsucht in mir nicht vertreiben, die sich wieder mehr Nähe und Kommunikation zwischen den Menschen wünscht.
Ein Mann steigt ein und setzt sich neben mich auf einen der seitlichen Klappsitze. Er trägt dieselbe Ledertasche, die mein Mann, als er noch lebte, immer trug, abgewetzt und kultig. Wir fahren vor uns hin. Und ich denke, wie mag das Gesicht des Mannes aussehen? Am Zielbahnhof müssen alle aussteigen. Der Nachbar und ich nehmen unsere Masken ab. Wir lächeln uns an. Schön, sagt der Mann mit der Ledertasche. Schön, dass sie auch lächeln. Man vermisst das oft, nicht wahr?
O ja, antworte ich. So geht es mir auch.
Alle drängeln zum Ausgang. Der Mann dreht sich um und ruft. Danke. Und ein fröhliches neues Jahr.
Dieses zugewandte Lächeln, dieser Morgenwunsch haben mir einen ganzen Tag verschönt. Da war einer, der mich sah und ich ihn. Das tat mir gut. Und ich dachte an den Spruch aus der Bibel, der Christinnen und Christen für 2023 mit auf den Weg gegeben ist: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Gabriele Herbst, Magdeburg