01.12.2020
Sinnwaise
Es war einmal …
Bei einem Gartenfest stehe ich mit einem Mann zusammen. Wir kommen ins Gespräch.
Er ist Architekt.
„Und Sie?“ fragt er.
Bisweilen antworte ich dann, ich arbeite für eine sehr alte Institution mit weltweiter Ausdehnung.
Heute mache ich es kurz: „Ich bin Pfarrer.“
„Oh, hätte ich nicht gedacht“
Ich bin nicht sicher, ob das als Kompliment gemeint ist.
Nach kurzer Pause fährt er fort: „Ich fühle mich als Sinnwaise; habe alles ausprobiert: Christentum, Buddhismus, Islam, Judentum. Alles nichts für mich. Und nun bin ich ein Sinnwaise.“
„Neues Wort für mich“ erwidere ich „Sie fühlen sich verwaist, weil Sie keinen Sinn in Ihrem Leben finden – aber Sie suchen weiter?“
Er zögert: „Tun wir das nicht alle? Nur furchtsame Menschen scheuen die Frage nach dem Sinn ihres Lebens. Sie haben Angst davor, keine Antwort zu finden.
Haben Sie eine Antwort?“
„Ach ja! Sie sind ja Pfarrer!“
„Sie fühlen sich als Waise, Sinnwaise. Darf ich Sie adoptieren?“ sage ich.
Er ist überrascht.
„Das heißt…?“
„Ich mache mich gemeinsam mit Ihnen auf die Sinnsuche, natürlich als Christ. Das überrascht Sie nicht, oder?“
Drei Monate telefonieren wir, tauschen E-Mails. Einmal treffen wir uns.
Dann schickt er mir einen Satz der Bibel: Ich glaube, hilf meinem Unglauben.
Beim Lesen lächle ich und antworte: Sie brauchen mich nicht mehr.
Er will sich wieder melden.
Gespannt darauf grüßt aus Dessau
Joachim Liebig
