19.07.2022
Wandergeselle
In den traditionellen Gewerken war es lange üblich, sich nach der Ausbildung für einige Jahre auf die Gesellenwanderung zu begeben – auf die sogenannte Walz.
Die braucht viel Vorbereitung, aber irgendwann ist es so weit: Tag der Abreise. Freunde und Familie versammeln sich am Ortsschild. Denn da wird der Geselle drüber klettern und seiner Heimat für zwei Jahre und einen Tag den Rücken kehren.
Wir helfen ihm, das Schild zu erklimmen, und irgendwann sitzt er da oben: Sohn, Freund, Bruder. Noch kann er zurück, könnte herabsteigen – aber nicht einfach zurückgehen. Könnte sitzen bleiben – aber alles festhalten, wie es war, das kann er nicht.
Und so schaut er zurück, ein letztes Mal. Überblickt, was war: sieht uns – die Menschen, die ihn zu dem gemacht haben, der er ist, sein bisheriges Leben.
Und nun klettert er nicht vom Schild herab; er springt nicht herunter. Er schließt die Augen. Und lässt sich fallen – in die ausgebreiteten Hände seiner Mitgesell:innen, seiner künftigen Weggefährt:innen. Lässt sich fallen in sein neues Leben. Vielleicht ist das das Schwerste von allem: loslassen.
Er fällt. Sie richten ihn auf. Und damit er gar nicht versucht ist, sich noch einmal umzuschauen, hält ihm ein Geselle die Augen zu. Und dann zieht er los. Mit ihnen. Ohne uns. Ohne mich.
Der Herr segne dich und er behüte dich, auf allen deinen Wegen. Und bis sich dein Weg und mein Weg wieder kreuzen, berge er dich sicher in seiner Hand.
Conrad Krannich, Reformierte Gemeinde, Magdeburg