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16.01.2023
Wenn ich habe Geld und Wein will jeder mein Bruder sein

Auf einer Hauswand in meinem Heimatdorf in Meschen hat jemand an eine Fassade geschrieben: Wenn ich habe Geld und Wein möchte jeder mein Bruder sein. Bin ich aber in der Not, so sind alle meine Brüder tot. Und dann folgt ein kurzer Nachsatz: Alle, die mich hassen, müssen mich doch leben lassen! Jedes Mal, wenn ich an dem Haus vorbeigehe, lese ich diese drei Sprüche und denke: Was haben die Erbauer dieses Hauses erlebt, dass sie gerade dies auf ihr Haus auftragen ließen. Der erste Spruch leuchtet mir ein – wenn einer viel Geld hat und die großen Holzfässer im Keller voll mit Wein sind, besuchen ihn seine Nachbarn und Freunde sehr gerne, denn sie wissen, dass er aus dem Vollen schöpft und sie bei ihm zu Tisch sitzen können. Aber dann muss unser Bruder erfahren: In der Not, sind die Brüder, die ihn vorher gerne aufsuchten, unerreichbar. All jene, die mit ihm zusammen gerne feierten und sich von ihm Geld liehen, stellen sich alle tot und wollen nichts mehr mit dem Habenichts zu tun haben. Der Schlusssatz klingt bitter – aber irgendwie auch trotzig und mutig. Ja, unser Bruder denkt, dass er Feinde hat, Menschen, die ihn hassen – und die ihn doch leben lassen müssen. Diese drei Sprüche bringen mich selbst jedes Mal zum Grübeln, wenn ich an dem Haus vorbeigehe – und ich hoffe still, dass ich meinen Brüdern und Schwestern in der Not beistehen kann.

Johann Schneider, evangelischer Regionalbischof aus Halle.


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