20.06.2021
Wortkulturerbe
Helma und Jonas heben ruhig die Hände. Sie zeichnen Kreisbewegungen um ihren Körper. Schütteln den Kopf. Zeigen auf sich und auf ihr Gegenüber. Was tun sie? Sie beten. In einer Evangelischen Grundschule lernen sie das Vaterunser, das älteste Gebet der Christenheit. Und weil es in der Natur der Sache liegt, dass ein Text, der 2000 Jahre auf dem Buckel hat, für Kinder ziemlich langweilig sein kann, hinterlegte die Religionslehrerin den Text mit Bewegungen. Sie möchte, dass dieses Gebet, das Jesus seinen Freunden beibrachte, in den Köpfen und auch in den Körpern der Kinder gespeichert wird. Egal, ob sie später einmal als Christen oder Nichtchristen leben werden.Helma und Jonas werden sich irgendwann an den gelernten Text erinnern. Er ist schlicht und hat doch Reizworte, die man nicht vergisst. „Heilig“zum Beispiel. Gibt es etwas, was mir heilig ist und was ich schützen möchte, werden sich die Kinder fragen. Und was bedeutet eigentlich das „Reich Gottes“? Ich kenne zwar das Reich der Einhörner oder das Reich der Eiskönigin, aber Gottes Reich, wer und wo könnte das sein? Um das tägliche Brot geht es im Vaterunser – ist es wirklich normal, dass wir genug zu essen haben? Und um das Böse, in dessen Netz man geraten, aber auch wieder herausfinden kann. Es ist ein kostbarer Text. Möge er in Herzen und Köpfen gespeichert werden.
Ich würde ihn sogar ins Wortkulturerbe aufnehmen.
Gabriele Herbst, Pfarrerin in Magdeburg