27.12.2019
Flügel

Es war eine Begegnung der besonderen Art,

neulich morgens im Bus.

Der Tag hatte Mühe in Gang zu kommen.

Die Kinder hatten mich die halbe Nacht wachgehalten.

Die Müdigkeit war auch mit dem besten Kaffee nicht zu vertreiben.

Bleischwer hing mir die Nacht in den Knochen.

Als ich die Wohnungstür hinter mir zuzog,

türmten sich vor mir die Aufgaben an diesem Tag auf.

 

Ich stehe an der Bushaltestelle und friere.

Natürlich ist der Bus zu spät.

Ich ziehe die Mütze noch ein wenig tiefer ins Gesicht.

Als der Bus endlich kommt,

ziehe ich missmutig meine Monatskarte aus der Tasche und zeige sie dem Fahrer.

Der weist mich patzig daraufhin,

dass die Karte abgelaufen ist

und zieht mir den Preis für eine Einzelfahrkarte ab.
Wenn es kommt, kommt es dicke.

Verstimmt setze ich mich auf einen freien Platz gegenüber einer Mutter mit ihren Kindern.

 

Die Tochter lächelt mich an mit ihrer Zahnlücke.

Sie grinst über beide Ohren.

Das steckt an.
Ich kann nicht anders und merke,

wie meine Mundwinkel nach oben wandern.

 

Als das Mädchen gerade austeigen will,

sehe ich, wie sie Mütze, Ranzen und einen Beutel zusammenrafft.

Da lugt aus dem Beutel etwas Weißes hervor.

Über einen kleinen Metallbügel ist weißer Stoff gespannt.

Als ihr schließlich der Beutel aus der Hand rutscht,

sehe ich: Das sind Engelsflügel.

 

Vielleicht für ein Krippenspiel in der Schule,

vielleicht aber auch genau für mich an diesem Morgen im Bus.

 

Gott schickt Engel. Sogar morgens im Bus.

Manchmal lohnt es sich, zweimal hinzusehen.

 

Weiß Pfarrer Ramón Seliger, evangelisch und aus Weimar.

 

 


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