30.12.2022
Heilige Nächte
Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen.
Boah – das Sprichwort hat mal wieder recht. Er streichelt sich über den prallen Bauch. Gutes Essen, viel Schokolade, jedes Mittagessen geht gleich ins Kaffeetrinken über.
Weihnachten ist nicht gut, mahnt die Waage im Bad.
Und das Völlegefühl hört gar nicht mehr auf.
Er geht zurück zu seinem Sessel und lässt sich träge hineinfallen.
Schnappt sich das Kreuzworträtsel, aber seine Gedanken wandern.
Er schaut aus dem Fenster. Im Vorgarten leuchten die Lichterketten an den Bäumen.
Bei den Nachbarn auch.
Draußen auf dem Feld ist es stockfinster. Und in diesen Tagen so verblüffend ruhig.
Da merkt er wieder: dass die Welt irgendwie offener ist.
Früher bei Oma nannte man das die heiligen Nächte.
Er kriegt Gänsehaut bei dem Gedanken.
Oma sagte immer, da steht das Tor zu den Heiligen offen.
Den Gedanken findet er interessant. Aber auch mystisch, irgendwie.
Heute ist er zu satt und zu müde, um jetzt noch viel nachzudenken.
Aber er würde gerne das Heilige erleben. Irgendwie.
Er nimmt sich vor, morgen mal die große Runde übers Feld zu machen.
Vielleicht ahnt er ja, ob da noch jemand ist.
Ein guter Geist, ein Gott.
Er hätte so viel zu besprechen.
Er hat so viele Fragen.
Wohin damit?
Ist da wer?
Ich bin hier.
Ulrike Greim, Weimar, Evangelische Kirche.