02.06.2023
Liebe trägt weit
Das wartet er immer noch ab. Der kleine Junge schlüpft unter die Bettdecke, die Tür zum Flur steht offen, er hört die Mama in der Küche werkeln. Gleich kommt sie. Gleich singt sie ihm das Abendlied. Gleich streicht sie über seinen Kopf und küsst ihn. Dann ist der Tag für ihn zu Ende und er kann einschlafen. Alles ist gut. Die Melodie hängt in den Gardinen und schwingt noch ein wenig.Er wartet es immer ab, schläft nie vorher ein, solange er es beeinflussen kann. Das ist wichtig. Dass Mama da ist, dass sie ihm gut ist. Das Lied ist wichtig. Das vom Mond, der aufgegangen ist. Ihre warme Hand auf seinem Kopf. Schlaf gut, kleiner Mann, wird sie wieder sagen, liebevoll. Und der Kuss.Viele Jahre später wird er sich daran erinnern, da ist er längst erwachsenund die Mutter lebt schon viele Jahre nicht mehr. Er wird es spüren, als wäre sie nebenan in der Küche. Er wird tief durchatmen und wissen: Alles ist gut. Er wird ihre Hand auf seinem Kopf spüren, das Lied hören. Es hängt auch in seinen neuen Gardinen.Wir wissen so wenig. Aber die Liebe, die wir einmal erlebt haben, trägt weit. Mitunter ein ganzes Leben.Diese Liebe – das ist Gott. Der schöne Gesang – ihr Kleid. Sie ist da. Gleich nebenan werkelt sie, du kannst es hören. Die Tür steht auf.
Ulrike Greim, Weimar, Evangelische Kirche.