30.08.2022
Sehen wollen

Was ist das eigentlich für ein Typ? Er sieht nichts. Keine Zukunft, keinen Weg vor den Füßen, er sieht nicht die Leute rechts und links neben sich. So ist er halt. Und die anderen haben sich an ihn gewöhnt. Dass er nichts mitkriegt, dass er sehr fordernd ist. Dass er bedient werden will. Seine Frau ist so eine hilfsbereite, die macht das alles für ihn. Sie bringt ihm alles, sie kümmert sich um alles. Er schnauzt dafür sie gerne voll. Er weiß ja alles besser.

Einmal hört er was. Was ist das? Eine Musik? Von wo kommt die? Da singen doch welche, oder? Das sind Kinderstimmen. Er kriegt eine Gänsehaut. Ist da draußen ein Lampionumzug, oder was? Tatsächlich. Hat wohl jemand Geburtstag oder so.

Warum auch immer - plötzlich regt sich sowas wie Hoffnung. Dass nicht alles sinnlos ist. Am nächsten Tag gibt er sich einen Ruck und ruft die alte Dame von der Diakonie an, die kennt er vom Trödelmarkt. Und sie fragt prompt: Ja wollen sie denn Zukunft sehen? Er ist verdutzt.

Doch schon, sagt er.

Und merkt, dass das ungewohnt ist und irgendwie besonders.

Sie reden lange. Über Gott und über die Menschen, und dass ja jeder hier seine Aufgaben hat.

Als er auflegt, denkt er: Uff. Sie hat womöglich recht. Ich kann selbst etwas tun.

Ihm ist es, als würde er seit langem wieder einmal die Augen aufschlagen und etwas sehen. Seine Wohnung, die mal wieder entrümpelt werden muss. Draußen das Dorf, still und fremd. Und er sieht seine Frau, die ihn die ganze Zeit erträgt. Sie sieht blass aus.

„Ich bin manchmal ein blindes Huhn,“ sagt er halb entschuldigend zu ihr. Sie nickt. „Ich verspreche dir, ich will mich bessern.“

Ulrike Greim, Weimar, Evangelische Kirche.


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