22.11.2021
Wenigstens ein Song

Er hatte so ziemlich alles verloren. Zuerst sein Kind. Es war tot zur Welt gekommen. Das war der Anfang vom Ende. Das hat er nicht verkraftet. Hat seine Frau verstoßen, sich im Suff ertränkt. Abend für Abend hat er sich die Birne weggesoffen, um den Schmerz nicht fühlen zu müssen. Sie hatten vorher ein gutes Leben, aber das Schicksal war dazwischengekommen.

Eines Abends am Tresen sitzt da ein anderer, der auch seinen Schmerz runterspült, Robbie. Sie plaudern, schimpfen, lachen. Dann beschließen sie, aus diesem Misthaufen von Leben wenigstens einen Song zu bauen. Sie gehen in die Bude unterm Dach, legen ordentlich Schnaps nach, nehmen sich die Gitarre und klimpern und texten.

„Alles geht den inneren Wasserfall herunter. Der eine Engel ist gegangen. Ich nehme mir andere Engel an seiner Stelle.“

Es wurde ein Hit. Millionenfach verkauft. Robbie Williams „Angel“.

Viele grölten mit. Jeder besang seinen eigenen Engel: die Freundin, das Kind, die eigene Mutter, und manche die himmlischen Engel.

Angel – das ist der tiefe Wunsch, dass es das noch nicht war. Dass es einen Sinn gibt. Dass ich nicht dieses elende Gerippe bleibe, dass das Leben aus mir gemacht hat. Der Tod auf zwei Beinen. Dass dieser Engel kommt und mir wieder Fleisch auf meine Knochen haucht.

Gibt es Engel, die das tun? Sie mögen kommen und hauchen. Auch in dieser Nacht.

Ulrike Greim, Weimar, Evangelische Kirche.

 


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