30.09.2019
Keine Theologie im Elfenbeinturm | Am 30. September wäre die Theologin Dorothee Sölle 90 Jahre alt geworden
„nicht du sollst den flüchtlingen raum geben
sondern ich soll dich aufnehmen
schlecht versteckter gott der elenden (...)
Hör nicht auf mich zu träumen gott“
(aus dem Gedicht „Ich dein baum“, Sölle, Loben ohne Lügen)
Die diese Zeilen geschrieben hat, ist eine der einflussreichsten Theologinnen des 20. Jahrhunderts. Sie hatte nie einen Lehrstuhl in Deutschland inne, obwohl sie promoviert und auch habilitiert war. Vom deutschen Universitätsbetrieb wurde sie fast zeitlebens unterschätzt und sogar lächerlich gemacht: Dorothee Sölle.
1929 wurde sie als Dorothee Nipperdey in einem vornehmen Kölner Vorort geboren: eine höhere Tochter, der Vater Juraprofessor, die Mutter Mittelpunkt des großbürgerlichen Haushaltes mit fünf Kindern. Nach innen steht die Familie dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber. Nach außen hat der Vater sich mit den Nazis arrangiert. 1950, sie ist 20, liest sie Anne Franks Tagebuch. Das jüdische Mädchen ist der gleiche Jahrgang wie sie. Da begreift sie, dass sie zum Volk der Täter gehört. Dieses Wissen wird sie nicht mehr loslassen.
Heimat in der Theologie
Im Studium der Theologie findet Dorothee Sölle eine Art Heimat, die sie in der etablierten Kirche nicht hat. Christus wird für sie „das Gesicht eines Menschen, eines zu Tode Gefolterten vor zweitausend Jahren“ (Sölle, Gegenwind), der sich trotzdem weiter an Gott hielt.
Sie fragt: Wie kann man nach Auschwitz noch singen von dem, „der Wolken, Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn?“ Und sie entwickelt, im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer, eine Theologie nach dem Tode Gottes. Gott der Allmächtige muss tot sein, anders ist sein Schweigen zu den Grausamkeiten der Welt nicht zu erklären. An die Stelle der Vorstellung eines über allem thronenden Gottes tritt für Sölle Jesus von Nazareth, Christus, der ohnmächtige Gott, der auf die Hilfe der Menschen angewiesen ist und leidenschaftlich an der Sache Gottes für die Welt festhält.
Vorbild für die Montags-Friedensgebete in Leipzig
Mittlerweile ist Dorothee Sölle verheiratet. Das Paar hat drei Kinder. Die Ehe zerbricht. Später lernt sie den Benediktinermönch Fulbert Steffensky kennen. Sie heiraten und haben eine gemeinsame Tochter. Bis zu Dorothee Sölles Tod werden sie sich gegenseitig anregen und gemeinsam engagieren. „Er verspottet meinen protestantischen Wahrheitsfimmel und ich seine katholisch-liebenswürdige Unschärfe.“ (Sölle, Gesammelte Werke, Band 8, S.39) Zusammen mit anderen begründen sie das „Politische Nachtgebet“ in der Kölner Antoniterkirche. Die Kirche ist überfüllt. Aktuelle politische und gesellschaftliche Fragen werden diskutiert, aber auch immer ein biblischer Text meditiert. Die Kirchenleitungen betrachten all das mit großem Misstrauen. Später werden die Politischen Nachtgebete das Vorbild für die Montags-Friedensgebete in Leipzig, die wiederum der Anfang der Friedlichen Revolution in der DDR werden.
Sölle engagiert sich in der Friedens-, Eine-Welt- und in der Anti-Atomkraft-Bewegung. Immer findet sie deutliche Worte. 1983 spricht sie vor dem Ökumenischen Rat der Kirchen: „Ich spreche zu Ihnen als eine Frau, die aus einem der reichsten Länder der Erde kommt, einem Land mit einer blutigen, nach Gas stinkenden Geschichte. (...) Zwischen Christus, der die Fülle des Lebens für alle bedeutet, und den Verarmten schiebt sich die Ausbeutung als die Sünde der Reichen, die versuchen, das Versprechen Christi zu zerstören.“ (DIE ZEIT, Nr. 34 vom 19.8.1983)
Verbindung von Theologie und Poesie
Für Reden wie diese wird sie angefeindet in der Bundesrepublik von den einen, für die anderen ist sie eine Prophetin, Heldin. Die Freundschaft zu der Neutestamentlerin Luise Schottroff eröffnet ihr neue Zugänge zu den biblischen Texten. Sie entdeckt den Gott Israels und die Kontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Die Feministische Theologie und die Theologie der Befreiung Lateinamerikas prägen ihr Denken. Zehn Jahre lang hat Dorothee Sölle eine Professur für Systematische Theologie in New York inne. Was in Deutschland nicht denkbar zu sein scheint, in den USA ist es möglich: Sölles Theopoesie, ihre Verbindung von Theologie und Poesie, ihr immer auch poetisches Sprechen von Gott bekommt einen Platz im Wissenschaftsbetrieb. Und mit ihm ihre ganze so streitbare, manchmal schrille, dann wieder zerbrechliche und empfindsame Person.
Zurück in Deutschland schreibt sie ihr Alterswerk: Mystik und Widerstand. Darin verbindet sie noch einmal die Themen ihres Lebens: die Liebe zu Gott und das unermüdliche Eintreten für eine gerechte Welt, in der es genug für alle gibt und in der alles mit allem verbunden ist. 2003 stirbt Dorothee Sölle im Alter von 73 Jahren.
Als ich einmal sehr deprimiert war, hat mir ein Freund, ein Pazifist aus Holland, etwas sehr Schönes gesagt: „Die Leute im Mittelalter, welche die Kathedralen gebaut haben, haben sie ja nie fertig gesehen. Zweihundert oder mehr Jahre wurde daran gebaut. Da hat irgendein Steinmetz eine wunderschöne Rose gemacht, nur die hat er gesehen, das war sein Lebenswerk. Aber in die fertige Kathedrale konnte er nie hineingehen. Doch eines Tages gab es sie wirklich. So ähnlich musst du dir das mit dem Frieden vorstellen.“ (Sölle, Gegenwind, S.228)
Die Welt nicht aktzeptieren, wie sie ist
Es gibt kaum eine Theologin, deren Werk so eng mit ihrer Gegenwart verknüpft ist, wie Dorothee Sölle. Nichts lag ihr ferner als eine Theologie im Elfenbeinturm, ein Glasperlenspiel fernab von Schmerz und Ungerechtigkeit der Welt. Von ihr zu lernen heißt, ganz gegenwärtig zu sein – in der mehrfachen Bedeutung dieses Wortes: Gegenwärtig Zeitgenossin sein, politisch und gesellschaftlich engagiert, parteiisch für eine „Kirche für andere“. Dabei die Welt nicht akzeptieren wie sie ist. Stattdessen das für möglich halten: dass Jesu Seligpreisungen heute gelten, genau jetzt – nicht den Etablierten, den Gebildeten, Privilegierten, nicht der Kirche in ihrer verfassten Form, sondern denen am Rand. Und schließlich: im Augenblick gegenwärtig sein und Gott darin finden. Mystikerin werden, verbunden sein mit allem.