28.03.2024
Neumann-Becker leitet künftig das Wittenberger Predigerseminar
Magdeburg (epd). Die scheidende sachsen-anhaltische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker, wird ab Juni neue Leiterin des Predigerseminars in Wittenberg.
„Es ist ein toller Ort, ich freue mich sehr“, sagte Neumann-Becker im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Neben der Verantwortung für die Schlosskirche und die Forschungsbibliothek werde sie insbesondere für die Ausbildung des Pfarrer-Nachwuchses verantwortlich sein.
Dabei gehe es um die Frage, wie man die Kirche zukunftsfest machen könne und welche Rolle Pfarrerinnen und Pfarrer künftig haben werden, sagte die evangelische Theologin: „Ich halte das für eine Riesenaufgabe, gerade jetzt nach der Missbrauchsstudie und der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung.“ Da gehöre schon etwas dazu, mit diesem Gepäck ins Pfarramt zu gehen, meinte Neumann-Becker. Man sei als Kirche verpflichtet, den jungen Pfarrerinnen und Pfarrern Gutes mit auf den Weg zu geben.
Neumann-Becker war seit 2013 Landesbeauftragte in Sachsen-Anhalt, zunächst für die Stasi-Unterlagen, dann für die generelle Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie bemängelte insbesondere die aus ihrer Sicht schleppende politische Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden durch in der DDR begangenes Unrecht. So gebe es allein in Sachsen-Anhalt rund 17.000 Menschen, die strafrechtlich rehabilitiert seien. Aber nur gut 8.500 von ihnen erhielten eine Opferpension. Knapp 1.300 Menschen in Sachsen-Anhalt hätten einen Antrag auf Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden gestellt, nur knapp 250 seien bewilligt worden.
Sie unterstütze daher die Forderung der SED-Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag, Evelyn Zupke, nach Einführung einer Vermutungsregelung. Das bedeute, wenn jemand in Haft gewesen sei und gesundheitliche Schäden habe, gehe man davon aus, dass dies auf die Folgen der Haft zurückzuführen sei. Ebenso begrüßte sie, dass Sachsen-Anhalt den Härtefallfonds für SED-Opfer in diesem Jahr auf 100.000 Euro verdoppelt habe.
Neumann-Becker wandte sich gegen eine Gleichsetzung der Bundesrepublik mit der DDR, wie sie teilweise in extrem rechten Kreisen vorgenommen wird. „Das ist natürlich grober Unfug“, sagte die scheidende SED-Aufarbeitungsbeauftragte. Allerdings nehme sie wahr, dass insbesondere die „geschlechtergerechte Sprache“ von vielen Menschen als Bevormundung empfunden werde. Dies sei auch ihr gutes Recht. „In der Gesellschaft sollte der Meinungskorridor möglichst breit sein von links bis rechts“, forderte Neumann-Becker.
"Der Meinungskorridor sollte möglichst breit sein"
epd-Gespräch: Oliver Gierens
Magdeburg (epd). Elf Jahre lang war Birgit Neumann-Becker Herrin über die Stasi-Akten in Sachsen-Anhalt. 2013 wurde sie Landesbeauftragte für die Akten der früheren DDR-Staatssicherheit, seit 2017 ist sie für die Aufarbeitung der gesamten SED-Diktatur zuständig. Anfang April geht ihre Amtszeit zu Ende. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) zieht sie Bilanz über Erledigtes und Unerledigtes, die veränderte Sicht auf den Unrechtsstaat DDR und ihre persönliche Zukunft.
epd: Frau Neumann-Becker, in Ihrem letzten Jahresbericht haben Sie zwei bemerkenswerte Zahlen vorgelegt: Die Zahl der Beratungen ist weiter stabil, die Zahl der Anträge auf Akteneinsicht steigt wieder. Warum ist das Interesse an den Stasi-Akten fast 35 Jahre nach dem Mauerfall noch so hoch?
Birgit Neumann-Becker: Das liegt glaube ich daran, dass sich viele Menschen genau überlegt haben, ob sie überhaupt Akteneinsicht beantragen wollen. Manche wollen das gar nicht. Die sagen dann oft, ich lebe jetzt mit meiner Familie oder meinen Nachbarn in Frieden und sie befürchten, dass sie aus den Akten etwas erfahren, dass sie nicht gut verarbeiten können. Außerdem haben wir inzwischen durch die Medien oder aus der Literatur erfahren, was die Stasi alles gemacht hat. Das ist anders als vor 30 Jahren. Ich habe meine Akten 1992 oder 1993 gesehen. Da waren wir erstaunt, was alles zum Vorschein kam. Die Menschen heute sind informierter und haben eine Ahnung, was da kommen könnte. Viele Anträge werden auch im Zusammenhang mit Rehabilitierungsverfahren gestellt.
epd: Wenn Sie auf Ihre Amtszeit zurückblicken: Wo waren Sie erfolgreich, wo bleiben Baustellen für Ihren Nachfolger?
Neumann-Becker: Erfolgreich waren wir, so glaube ich, bei Themen, die speziell Sachsen-Anhalt betreffen, beispielsweise bei Einwirkungen der Stasi im gesundheitlichen Bereich. Wir haben beispielsweise diese geschlossenen venerologischen Stationen aufgearbeitet, in die Frauen wegen angeblicher Geschlechtskrankheiten unter Verletzung der gesetzlichen Regelungen, die in der DDR galten, eingewiesen wurden. Oder wir hatten das Thema Heimkinder. Eine erfolgreiche Publikation waren auch die Grenzschicksale, wo wir 30 Interviews mit Menschen gesammelt haben, die ihre Erfahrungen mit der innerdeutschen Grenze schildern. Ich glaube, das Interesse an persönlichen Schicksalen ist für viele wichtig. Da können wir Menschen unterstützen, ihre Rechte nach den SED-Unrechtsbereinigungsgesetzen wahrzunehmen. Wir haben die Aufarbeitung der Jugendhäuser angestoßen. Am Herzen liegt mir auch die stärkere Inanspruchnahme der Rehabilitierung von Zersetzungsopfern.
epd: Sie haben bemängelt, dass bisher nur wenig Menschen einen Antrag auf Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden durch die SED-Diktatur gestellt hätten. War dieses Thema bisher unterbelichtet?
Neumann-Becker: Unterbelichtet ist das nicht. Ich berichte darüber jährlich. Aber ich kritisiere, dass dieses Gesetz vielen Menschen die Anerkennung ihrer gesundheitlichen Folgeschäden verschließt. Das ist auch eine Frage der Umsetzung. Da haben wir Fälle gesehen, wo die Begutachtung der Fälle aus unserer Sicht nicht sachgerecht war. In Sachsen-Anhalt haben wir etwa 8.500 Menschen, die eine Opferpension erhalten. Und wir haben knapp 17.000 Menschen, die strafrechtlich rehabilitiert sind. Wir kennen heute sehr genau die Haftbedingungen, gerade in der Untersuchungshaft. Da ist psychischer Stress ausgeübt worden, auch mit körperlichen Einwirkungen. Es ist einfach nicht logisch, dass nur so wenige Menschen in Sachsen-Anhalt diese Gesundheitsschäden anerkannt bekommen haben. Das sind rund 250, obwohl knapp 1.300 einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Und ich unterstütze die Forderung der SED-Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag, die eine Vermutungsregelung einführen will. Das heißt: Wenn jemand in Haft war und diesen und jenen Schaden hat, dann gehen wir davon aus, dass das Folgen der Haft sind.
epd: Schon lange mahnen Sie die Politik, die SED-Opfer stärker in den Blick zu nehmen. Fühlen Sie sich von den Politikern ausreichend wahrgenommen?
Neumann-Becker: Ja. In Sachsen-Anhalt haben wir vor zwei Jahren den Härtefallfonds für SED-Opfer eingeführt. Der ist jetzt auf 100.000 Euro verdoppelt worden. Das halte ich für ein gutes Instrument, um in Notlagen zu helfen. Auf Bundesebene müssen die Unrechtsbereinigungsgesetze schärfer gestellt werden. Da ist es hilfreich, dass vor drei Jahren beim Bundestag die Institution der Opferbeauftragten eingeführt worden ist. Ich hoffe sehr, dass wir jetzt bei der Novellierung der Gesetze im Blick auf Gesundheitsschäden erfolgreich sind. Man muss das jetzt machen, nicht erst in zehn Jahren.
epd: Vor allem in stark rechten Kreisen bis hin zu Querdenkern wird die heutige Bundesrepublik zuweilen als „DDR 2.0“ bezeichnet. Auch heute, so heißt es, dürfe man seine Meinung nur hinter vorgehaltener Hand sagen. Ist etwas dran an solchen Vergleichen?
Neumann-Becker: Das ist natürlich grober Unfug. Wir haben hier demokratische Freiheitsrechte: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Wahlen und die Möglichkeit, Entscheidungen staatlicher Stellen gerichtlich überprüfen zu lassen. Ich nehme wahr, dass es beispielsweise bei der sogenannten geschlechtergerechten Sprache „Formulierungsvorschläge“ gibt, dass man da zum Teil so eine komische Sprache hat, um möglichst irgendwie alles gesagt zu haben. Viele empfinden das als Bevormundung. Dass Menschen sagen, das strengt mich an oder das will ich nicht so sagen, das halte ich für ihr gutes Recht. In der Gesellschaft sollte der Meinungskorridor möglichst breit sein von links bis rechts. Wir haben gute Instrumente, mit denen wir Demokratiefeindlichkeit und Extremismus abwehren können. Ansonsten ist uns schon aufgetragen, dass wir viel miteinander aushalten müssen.
epd: Sind die Ostdeutschen da besonders sensibel?
Neumann-Becker: Es gibt hier eine große Sensibilität gegenüber dem, wie kommuniziert und gesprochen wird oder ob jemand offen und authentisch spricht und zu dem steht, was er sagt. Die Ostdeutschen sind sensibel dafür, dass schwierige Dinge offen angesprochen werden. Das ist ja die Erfahrung aus der DDR-Zeit, dass nichts dadurch besser wird, wenn es nicht diskutiert wird. Gerade unangenehme Themen müssen angesprochen werden, damit sie nicht denen als Material dienen, die möglicherweise in eine extremistische Ecke abdriften.
epd: Eigentlich sind Sie evangelische Pfarrerin. Im September vergangenen Jahres wollten Sie neue Kirchenpräsidentin der anhaltischen Landeskirche werden - und sind gescheitert. Wie schmerzlich war das für Sie?
Neumann-Becker: Ich hätte mich sehr gefreut, weil ich die Landeskirche Anhalts und ihre Geschichte für wichtig und interessant halte - und weil sie in den nächsten Jahren aus demografischen Gründen vor großen Aufgaben steht. Bedauerlich ist am meisten, dass sie niemanden gewählt haben. Jetzt müssen sie einen neuen Anlauf mit einer neu gewählten Landessynode nehmen.
epd: Was werden Sie weiter beruflich machen, kehren Sie in den Pfarrdienst zurück?
Neumann-Becker: Ich werde ab Juni in Wittenberg im Predigerseminar weiterarbeiten. Das brauchte eine neue Direktorin. Es ist ein toller Ort, ich freue mich sehr. Dazu gehört auch die Verantwortung für die Schlosskirche und die Forschungsbibliothek. Es geht dort um die Ausbildung des Pfarrernachwuchses sowie um die Frage, wie man die Kirche zukunftsfest machen kann und welche Rolle Pfarrerinnen und Pfarrer künftig haben werden. Ich halte das für eine Riesenaufgabe, gerade jetzt nach der Missbrauchs-Studie und der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Da gehört schon etwas dazu, mit diesem Gepäck ins Pfarramt zu gehen. Da sind wir als Kirche verpflichtet, den jungen Pfarrerinnen und Pfarrern Gutes mit auf den Weg zu geben.
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