04.03.2020
Von der Arroganz der Ohnmacht: Ministerpräsidentenwahl in Erfurt | ezra warnt vor weiterer Eskalation von Rechts
Erfurt (epd). Die Ereignisse im Erfurter Landtag vor Monatsfrist haben nicht nur das Land, sie haben die ganze Republik verändert.
In Thüringen musste CDU-Partei- und Fraktionschef Mike Mohring seinen Hut nehmen. In Berlin kündigte die Bundesvorsitzende der Partei, Annegret Kramp-Karrenbauer, ihren Rückzug an. In Hamburg flogen die Liberalen aus der Bürgerschaft. Allerorten wird debattiert: Wie hältst du es mit der AfD?
Doch bei allen Veränderungen gibt es auch Konstanten. Die Mehrheitsverhältnisse im Thüringer Landtag haben sich seit dem 5. Februar nicht geändert: SPD (8), Linke (29) und Grüne (5) kommen nur auf 42 Mandate, die AfD (22), Union (21) und FDP haben zusammen 48. Rot-Rot-Grün fehlen weiter vier Stimmen für eine eigene absolute Mehrheit.
Aber die sollte es schon sein. Versteifte sich das linke Lager beim Debakel vom 5. Februar auf den dritten Wahlgang, bei dem Bodo Ramelow mit 44 Stimmen letztlich eine Stimme weniger bekam als Kemmerich, soll es dieses Mal bereits im ersten Anlauf klappen. Wenn nicht mindestens vier Abgeordnete von CDU und FDP in der geheimen Wahl für ihren Kandidaten stimmen, droht Rot-Rot-Grün mit der Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Wie das gehen soll, bleibt angesichts der verfassungsrechtlichen Hürden eine große Frage, müssten doch zwei Drittel der Abgeordneten - immerhin 60 Parlamentarier - dafür stimmen.
Möglich machen könnte dies nur gesellschaftlicher Protest, der mit dem Druck der Straße dafür sorgt, das Patt im Landtag zu beenden. Bereits am 15. Februar hatte ein breites gesellschaftliches Bündnis schon einmal zur Demonstration aufgerufen. Zwischen 10.000 und 20.000 Menschen sollen es aus Sicht von Polizei und Veranstaltern auf dem Erfurter Domplatz gewesen sein, die sich gegen Kemmerichs Wahl mit Hilfe der AfD empörten.
Es sei tröstlich, "dass die gesunden demokratischen Reflexe" funktioniert hätten, fasst Christhard Wagner seine Eindrücke zusammen. Der Oberkirchenrat vertritt die evangelische Kirche bei Landtag und Landesregierung.
Hartnäckig hält sich in Erfurt zudem das Gerücht, Mohring sei am Abend von Kemmerichs Wahl angesichts der Demonstranten vor der Staatskanzlei wieder umgedreht und habe so das Gespräch mit dem neuen Ministerpräsidenten vermieden. SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee macht den schnellen Protest mit dafür verantwortlich, dass der FDP-Mann "aus der Staatskanzlei gefegt wurde". Allerdings stimmt das nur zum Teil: Kemmerich kündigte am 6. Februar seinen Rückzug an. Der Rücktritt selbst erfolgte am 8. Februar. Die Geschäfte führt er allerdings weiter; ohne Minister und mit Unterstützung der Staatssekretäre in den Ressorts.
Das könnte auch nach dem Mittwoch so bleiben. Zwar hat sich Rot-Rot-Grün mit der CDU auf einen Stabilitätspakt geeinigt, der Abstimmungen von der AfD unabhängig machen soll, doch regelt der nicht die Ministerpräsidentenwahl. Bei Neuwahlen droht der Union in Thüringen laut Umfragen die Halbierung ihres Stimmenanteils. Mit dem Stabilitätspakt hat sie sich Zeit erkauft. Gewählt werden soll erst im April 2021. Doch dafür braucht es am Mittwoch eben vier Stimmen. Allein, für den politischen Feind zu votieren, ist den Abgeordneten laut Beschlusslage der Bundes-CDU strikt verboten.
Angesichts des Dilemmas staunt nicht nur Christhard Wagner "über die Berliner Arroganz". Sie verbiete eine Zusammenarbeit, ohne zu sagen, wie es gehen könnte, meint der Oberkirchenrat.
Doch das ist noch nicht alles: Inzwischen hat auch Höcke angekündigt, zur Wahl anzutreten. Erhält er alle 22 Stimmen seiner Fraktion - und vielleicht sogar noch ein paar mehr -, kann er auf Union und FDP zeigen: Ihr habt Ramelow mitgewählt, obwohl ihr das Ende von Rot-Rot-Grün versprochen hattet. Zum anderen dürfte Ramelow nicht einfach aufstecken, wenn der AfD-Mann auch zu Wahlgang zwei und drei antritt.
Das Wort Arroganz fällt dieser Tage häufig in Erfurt. Auch das rot-rot-grüne Lager ist nicht frei davon. So wurde erbittert über die Zuschnitte der Ministerien und neue Staatssekretäre gestritten, als hätte man die Mehrheit für Ramelow längst im Sack. Es ist eine Arroganz der Ohnmacht, die viele Thüringer Akteure in diesen Tagen eint.
Kirchenmann Wagner sieht die Chancen für Bodo Ramelow am Mittwoch bei 80 Prozent. Sicher ist seine Wahl auf keinen Fall.
Von Dirk Löhr (epd)
Opferberatung ezra fordert handlungsfähige Landesregierung
Erfurt (epd). Die Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen (ezra) warnt vor einer weiteren Eskalation von Rechts. Gleichzeitig appellierte die Opferberatung am Dienstag in Erfurt an alle demokratischen Abgeordneten des Landtags, schnell für eine handlungsfähige Regierung zu sorgen. Diese werde gebraucht, um entschieden für den Schutz aller Menschen in Thüringen einzutreten, erklärte die Organisation. In Erfurt tritt am Mittwoch bei der Wahl des Ministerpräsidenten im Thüringer Landtag der Linken-Politiker Bodo Ramelow gegen AfD-Landes- und Fraktionschef Björn Höcke an.
Es sei längst überfällig, dass dem Schutz von Menschen, die tagtäglich Angriffe und Bedrohungen erlebten und um ihr Leben fürchten müssten, oberste Priorität bei Politik, Behörden und Gesellschaft eingeräumt werde. "Ohne konkrete, wirksame Maßnahmen bleiben die wichtigen Solidaritätsbekundungen nach den rassistischen Morden des NSU und den rechtsterroristischen Attentaten in Hanau, Halle und Kassel nur eine Fußnote mit leeren Versprechen", warnte Projektkoordinator Franz Zobel. Darüber hinaus fühlten sich rechte Täter durch die Ereignisse um die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) Anfang Februar mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsident legitimiert.
Die Beratungsstelle in Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) unterstützt seit 2011 Menschen, die angegriffen werden, weil die Täter sie einer von ihnen abgelehnten Personengruppe zuordnen. Die Finanzierung von ezra erfolgt über das Bundesprogramm "Demokratie leben!" und das Thüringer Programm "DenkBunt".
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