Hoffnungsträger aus Biederitz: Mentorengruppe NesT

Der 20. Dezember 2021 war für Gundel Berger, Birgit Gerlach, Susanne Pummerer und Burkhard Wrede-Pummerer ein ganz besonderer Tag. Da kam Joyce Raphael in Magdeburg an, alleinerziehende Mutter mit drei Töchtern, geboren im Südsudan, mit drei Jahren geflohen vor den Islamisten, aufgewachsen, erwachsen geworden in einem Flüchtlingslager in Kenia.

Die vier Deutschen von der evangelischen Kirchengemeinde in Biederitz hatten die Verantwortung übernommen für die afrikanische Familie, im Rahmen des sogenannten NesT-Modells, kurz für „Neustart im Team“. Gemeinsam verantwortet vom Bundesinnenministerium, der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF.

Das Programm richtet sich an besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, die vor Ort vom UNHCR ausgewählt werden und mit dessen Unterstützung das Flüchtlingslager verlassen können, um nach Deutschland auszureisen. Das hat Birgit Gerlach vom Programm überzeugt: „Eine Mutter mit drei Kindern hätte keine Chance gehabt, übers Mittelmeer nach Europa zu kommen. Von daher finde ich den Ansatz gut, dass direkt in den Flüchtlingslagern die Auswahl stattfindet und eben auch besonders Schutzbedürftige dadurch eine Chance und eine Lebensperspektive bekommen.“

Die Idee des NesT-Modells: Das Asylverfahren wird bereits durch den UNHCR im Flüchtlingslager abgeschlossen. In Deutschland angekommen, erhalten sie eine Aufenthaltsgenehmigung.

Eine Mentorengruppe kümmert sich um die Betroffenen. Das heißt: Sie suchen eine geeignete Wohnung, müssen für die Kaltmiete selbst aufkommen oder sich um Unterstützung kümmern, sie helfen bei Behördengängen, bei der Suche nach Schul- und Kindergartenplatz – kurz: Übernehmen die Verantwortung für die Menschen, die aus schwierigen, nicht selten lebensbedrohlichen Situationen nach Deutschland gekommen sind. Susanne Pummerer ist überzeugt: „So kann Integration gut und schneller funktionieren, viel besser und schöner für die Menschen, die zu uns geflohen sind.“ Und ihr Mann, Burkhard ergänzt: „Es hat mich auch gereizt, dass man in die Speichen von Lebensschicksalen eingreifen kann. Ihnen hier eine Perspektive zu bieten, Freiheit. Das spürt man ihnen heute auch an, diese Sicherheit, dass sie das zu schätzen wissen, dass sie hier eine Lebensperspektive haben.“ Gelebte Nächstenliebe, ganz im Sinn Dietrich Bonhoeffers.

Die Mentoren fanden eine Wohnung für Joyce und ihre Kinder, in Magdeburg, nicht im kleinen Biederitz. Das Lothar-Kreyssig-Ökumenezentrum der EKM übernahm die Kaltmiete.  Die Evangelische Sekundarschule in Magdeburg erklärte sich bereit, die beiden Töchter Juliet und Sharon aufzunehmen. Heute sprechen beide Mädchen schon recht gut Deutsch, und sie haben Freunde gefunden. Für die zweijährige Izabel wurde ein Kindergartenplatz organisiert und auch Ethan (8 Monate) ist in der KiTa bereits angemeldet.

Jeder in der Gruppe hat seinen Aufgabenbereich. Gundel Berger zum Beispiel kümmert sich als Juristin um die Angelegenheiten mit den Behörden: Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, um das Erziehungsgeld, den Unterhaltsvorschuss. „Joyce alleine mit den Behörden zu lassen, das ist vollkommen ausgeschlossen. Sie würde ihre gesamten Ansprüche auf ihren Lebensunterhalt verlieren. Da können wir doch nicht zugucken.“

Die Familie ist gut angekommen im deutschen Alltag. Susanne Pummerer zeigt auf ihrem Handy Fotos der Kinder, beim gemeinsamen Waffelbacken, beim Spielen, bei der Freude über ein eigenes Handy. Sie hat ein Lächeln im Gesicht. Man gibt viel. Aber es kommt auch viel zurück, Freude, Vertrauen.

Und dennoch gibt es auch immer mal wieder Probleme, Missverständnisse. Als die kleine Izabel im September mit Schneeanzug in den Kindergarten kam, irritierte das die Erzieherin sehr. Da prallen ganz verschiedene Lebenserfahrungen aufeinander, sagt Susanne Pummerer:  „Wenn eine Mutter 25 Jahre in einem Flüchtlingslager lebt und es vor allem darum geht, irgendwie über die Runden zu kommen, dann ist es für so jemanden schwer, mit all diesen Gepflogenheiten und Formalitäten in Deutschland gleich zurecht zu kommen und diese zu verstehen.“

Viel ist geschafft, doch bis die Familie wirklich auf eigenen Beinen stehen kann, wird es noch dauern, da sind sich alle einig. Jetzt stehen Besuche mit den Kindern beim Zahnarzt und beim Kiefernorthopäden an. Joyce brauchte kürzlich Hilfe beim Reparieren des kaputten Kinderwagens. Und dann kommt wieder ein Termin bei der Ausländerbehörde. „Wir helfen, so lange es nötig ist“, sagen die vier Mentoren. Und Burkhard zitiert zum Schluss den Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry: „Man ist für das verantwortlich, was man sich vertraut gemacht hat.“


Infos zum NesT-Modell:

Das Programm "Neustart im Team (NesT) ist ein staatlich-gesellschaftliches Aufnahmeprogramm für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge". Es wird gemeinsam verantwortet vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI), der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (IntB) und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Das Programm NesT wurde zum 1. Januar 2023 als reguläres Aufnahmeprogramm des Bundes verstetigt.

Ziel von NesT ist es, durch zivilgesellschaftliche Unterstützung zusätzliche Aufnahmeplätze zur Verfügung zu stellen und die grundsätzliche Aufnahmebereitschaft in der Gesellschaft zu erhöhen.

Die Mentorinnen und Mentoren verpflichten sich, den Flüchtlingen Wohnraum zur Verfügung zu stellen (Zahlung von Kaltmiete oder Einräumen eines Wohnrechts) und diese darüber hinaus praktisch zu unterstützen (z.B. bei Behördengängen, Eröffnung eines Bankkontos, Anmeldung bei einer Schule, Vermittlung von Kontakten zu (Sport-)Vereinen).

Die operative Durchführung des Programmes erfolgt durch das BAMF (Auswahl der Flüchtlinge, Prüfung der Anträge der Mentorinnen und Mentoren sowie das Matching der Mentoring-Gruppen mit den Flüchtlingen).

Mehr Informationen: https://www.neustartimteam.de/


Mehr Fotos

Susanne Pummerer  Foto: EKM Gundel Berger  Foto: EKM Burkhard Wrede-Pummerer  Foto: EKM Birgit Gerlach  Foto: EKM

Bleiben Sie mit unseren Newslettern auf dem Laufenden.

Hier Abonnieren

Die besten News per E-Mail - 1x pro Monat - Jederzeit kündbar