14.10.2019
Gedenkgottesdienst für die Opfer des Anschlages vom 9. Oktober 2019

Am 14. Oktober 2019, Marktkirche „Unser Lieben Frauen“, Halle/Saale, mit Landesbischof Friedrich Kramer

Predigttext: Joh 10,7-9-11

 

Friede sei mit Euch und Liebe und Hoffnung von Gott, unserem Vater, und Jesus Christus und dem Heiligen Geist, Amen.

Die Tür hat gehalten, und doch mussten Menschen sterben. Die Tür hat gehalten und war eine Schutztür vor noch schlimmerem Morden. Und doch ist das wenig Trost für die, die ihre Angehörigen verloren haben. Zwei Menschen wurden ermordet. Mitten in unserer Stadt. Und wir alle spüren: Es hätte jeden von uns treffen können. Da zieht einer los, um Juden abzuschlachten und tötet eine Christin und einen ganz normalen Hallenser, einen Fußballfan. Einfach so schießt er auf alles, was sich bewegt, und dabei wird das Ganze gefilmt. Eine Kamera auf seinem Kopf, als sei es ein Computerspiel. Ein Mörder mitten in unserer Stadt. Ein junger Mann, völlig verblendet, auf asozialen Abwegen, durch asoziale Netzwerke völlig auf falschem Weg. Auf dem Weg des Todes, er mordet.

Die Tür hat gehalten, das ist das Wunder von Halle. Aber zwei Menschen mussten sterben, das ist die Wunde von Halle. Und diese Wunde wird nicht so schnell verheilen. Denn eine Sicherheit ist plötzlich weg. Wir wissen und ahnen nun, dass der Terror, dass die Gewalt, dass die Dumpfheit und Brutalität, die Empfindungslosigkeit – all das kann auch bei uns sein. Die Gewissheit, dass das nicht bei uns ist, sie ist jetzt verloren.

Und wenn wir durch die Humboldtstraße gehen, oder an dem Döner-Imbiss vorbeikommen, werden wir immer wieder daran denken: Mitten hier, mitten unter uns – jeden kann es treffen.

Wie kommt es, dass ein junger Mann so verblendet ist, dass er loszieht und Menschen abschießt? Wie kommt es, dass er so empfindungslos ist? Wie kommt es, dass er einen Film dabei dreht, mit dem er Punkte sammeln will, in einem Videokanal, in dem jene die meisten Punkte erhalten, die die meisten erschießen? Was ist das? Und warum haben wir es nicht wahrgenommen?

Können wir das überhaupt aufhalten? Können wir diese Türen schließen?

Wir können uns beruhigen und sagen: Es war ein Einzeltäter. Wir wissen, es war keine organisierte Gruppe. Eine solche hätte ganz anders zugeschlagen.

Aber, dass es nur ein Einzeltäter war, das stimmt nicht. Denn dahinter stehen Netzwerke. Sie agieren deutschlandweit, europaweit, weltweit und befeuern sich gegenseitig im Hass. Im Hass gegen alles: Im Hass gegen die Juden, im Hass gegen den Feminismus und die Frauen, im Hass gegen „die da oben“, im Hass gegen die Politiker, im Hass gegen alle. Sie sind vernetzt. Und der Täter wollte auch zu ihnen sprechen mit seinem Filmen, mit seinen Ideologien.

Wo kommt dieser Hass her? Ist es die Einsamkeit? Ist es die Demütigung? Ist es die Lust, sich machtvoll zu fühlen, obwohl man ohnmächtig ist? Viele Erklärungen werden wir hören und diskutieren. Aber sie helfen uns an dieser Stelle nicht weiter, wo es darum geht, den Schmerz auszuhalten. Sie helfen uns an dieser Stelle nicht weiter, wo es nicht darum geht zu diskutieren, sondern sich klar zu positionieren – vor Synagogen und vor Moscheen, vor Gotteshäusern. Damit nicht Menschen, die beten, im Gebet ermordet werden.

Menschen im Gebet sind wehrlos. Und das ist gut so! Sie haben keine Waffen und das muss so sein, denn sie öffnen ihre Hände für Gott. Es gibt nichts Feigeres, nichts Unmännlicheres als einen solchen Weg zu gehen: Eine Waffe zu nehmen und Menschen zu erschießen, die beten.

Und doch ist einmal diese Tür aufgetan und Menschen gehen hindurch und folgen dem ersten Täter. Und so haben wir ganz neue Phänomene. Mit jeder neuen technischen Errungenschaft kommen neue Phänomene hinzu – Menschen, die so losziehen.

Das Evangelium, was wir gerade gehört haben – und für das wir miteinander aufgestanden sind, weil wir davon ausgehen, dass es gut ist, sich zu erheben, wenn Christus in seinem Wort zu uns kommt, wenn Gott zu uns kommt, dass wir ihm die Türen öffnen - dieses Evangelium sagt: „Amen, Amen, ich sage Euch, ich bin die Tür zu den Schafen. Ich bin die Tür, und wer durch mich hineingeht, der wird gerettet werden, der wird ein- und ausgehen und Weide finden.“

Wir Christen glauben, dass das Leben mit dem Tod nicht vorbei ist, sondern dass es eine Tür gibt, die in ein anderes Leben führt. Christus ist diese Tür. Was er sagt, öffnet Türen.

Christus ist einer, der die Türen aufhält, so dass wir Menschen zueinander finden. So dass die Trauernden wissen, dass sie nicht allein sind, sondern Trost finden. Dass die, die reinen Herzens sind, sicher sein können, dass sie Gott schauen. Dass die, die sich für den Frieden einsetzen, Gottes Kinder genannt werden.

Christus Jesus, der selbst das Wort Gottes ist, öffnet Türen.

Und doch habe ich am letzten Mittwoch gedacht – und als wir dann am Freitag in der Synagoge waren und der Rabbi dort sagte: „Die Tür ist geschützt worden, es war eine Schutztür. Wir danken Gott dafür.“ – ich habe gedacht: Vielleicht geht es nicht nur darum, Türen zu öffnen, sondern auch Türen zu schließen, um Schutztüren zu haben.

Wir haben es als Kirche über hunderte von Jahren, leider Gottes so gehalten dass wir Türen für den Judenhass geöffnet hielten. Und auch hier in der Kirche hängt ein Bild, auf dem sieht man, wie Händler aus dem Tempel getrieben werden durch Jesus, und sie werden als Juden dargestellt - als ob Jesus nicht selbst ein Jude gewesen wäre! Wir haben die Türen aufgemacht für den Judenhass, und er hat viele Hirne und Herzen vergiftet. Hat sich in Pogromen Bahnen gebrochen und hat zu unendlichem Leid des jüdischen Volkes geführt.

Dieser Hass hat neue Formen angenommen. In Form von Rassismus und Antisemitismus, für die wir als Kirche nicht mehr verantwortlich sind, aber die in ganz neuer und schlimmerer Art massenhaftes Sterben und Morden erzeugt haben. Und die eine Seite der Erwählung des Volkes Israels hat auf der anderen Seite Verschwörungstheorien gegen das Volk Israel.

Als Kirche haben wir begonnen aufzuräumen und die Türen zu schließen für den Antisemitismus. Wir haben unsere Judenfeindschaft vor die Tür gesetzt und gesagt: Du gehörst nicht in unsere Herzen. Und so konnten wir am Freitag mit tausenden Menschen in den Synagogen in Deutschland stehen und sagen: Ein Angriff auf eine Synagoge ist auch ein Angriff auf die Kirche! Es ist ein Angriff auf alle Menschen, die glauben, es ist ein Angriff auf alle Menschen, die friedlich sind.

Doch wie können wir auch in unserer Gesellschaft den Antisemitismus vor die Tür setzen. Er ist so tief in uns und überall verwurzelt! Wenn wir uns die Gesänge der Fußballmannschaften anhören, wenn wir den Judenwitzen auf dem Schulhof lauschen, wenn wir der Israelkritik zuhören, die landauf landab heftig geäußert wird – ja, schon das Wort „Nah-Ost-Konflikt“ tut so, als ob der Konflikt im Nahen Osten ein Problem allein des jüdischen Volkes wäre. Wer aber genau hinschaut, sieht, da geht es um ganz andere, viel heftigere Konflikte. Aber suggeriert wird: der Nah-Ost-Konflikt habe immer etwas mit dem Judentum zu tun, und diese Verschwörungstheorien verseuchen die Köpfe und die Herzen.

Wie können wir diese Türen schließen? Damit nicht noch einmal ein junger Mann von diesen Gedanken verseucht loszieht, um zu morden?

"Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten. Christus aber sagt: Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben." Jesus Christus und mit ihm die Kirchen bieten Liebe, Hoffnung und Vertrauen als Werte an. Sie bieten an, dass nicht Hass regiert, sondern die Wertschätzung des Anderen. Sie bieten an, dass du viel mehr Möglichkeiten hast, als du heute denkst. Sie zeigen dir, dass du dich anderen Menschen öffnen und freundlich sein kannst.

Doch dazu müssen die hassvollen Gedanken vor die Tür gesetzt werden. Und es müssen die Türen halten, dass diese Gedanken nicht weiter uns, unsere Herzen und unsere Gesellschaft vergiften und verpesten. Es ist ein schwerer und langer Weg und wir brauchen einander um ihn zu gehen.

Die Angehörigen, die um ihre Liebsten weinen, brauchen jetzt, dass jemand an ihre Tür klopft. Denn nachdem wir alle uns hier zusammen gefunden haben und am Freitag in Merseburg eine Trauerfeier sein wird, werden die traurigen und verlassenen Tage kommen. Und wenn jemand trauert, wissen die Menschen oft nicht, was sie tun sollen. Ich sage Ihnen: Gehen Sie einfach hin! Hören Sie zu! Denn die Seelen müssen hinterherkommen hinter dem Schmerz.

Zwei Menschen sind mitten aus dem Leben gerissen worden, zwei Menschen wie du und ich. Sie waren auf der Straße unterwegs und sind einfach erschossen wurden. So soll es nicht sein unter uns! So darf es nicht wieder werden! Auch dafür müssen wir nacheinander schauen, einander besuchen, aufeinander achten, gute Hirten füreinander sein.

Jesus sagt: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben hin für die Schafe.“ Die beiden, die gestorben sind, wollten ihr Leben nicht hingeben. Aber sie haben uns aufgerüttelt – als Stadt, als Gesellschaft. Sie haben bewirkt, das wir hier zusammen sind und dass man in ganz Deutschland über die Fragen diskutiert, wie wir eine menschenfreundlichere, eine weniger von Hass besetzte Gesellschaft werden können. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam weitergehen. Lassen Sie uns die richtigen Türen öffnen und dass, was vor die Tür gehört, hinaustun.

Darin stärke uns Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist, denn alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen. 


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