26.10.2019
Predigt von Regionalbischöfin Dr. Friederike Spengler im Gedenkgottesdienst zu 30 Jahre Friedliche Revolution
St. Salvator Gera, 26. Oktober 2019
Gnade sei mit euch und Frieden von Gott ….
Ein Traugespräch. Ich sitze als Pfarrerin mit dem Brautpaar zusammen, spreche über Bibeltext, Gebet und Segen der Trauung, gemeinsam planen wir den Ablauf. Mein Gegenüber ist schon etwas älter, beide gehen auf die 60 zu. Ich freue mich über deren spätes Glück. Wir kommen ins Reden über die Dinge des Lebens, über den Rückblick auf die beiden sehr verschiedenen Lebenswege. Der Bräutigam erzählt, dass er in der DDR Offizier gewesen sei. In Leipzig war er dann am 7. Oktober 1989 mit seiner Kompanie dabei. Sie saßen auf den Armeewagen, die auf dem Ring vor dem Hauptbahnhof standen. Sie waren in Schießbereitschaft. Bis zum Schluss hatten sie mit einem Befehl aus Berlin rechnen müssen. Dieser sei ja dann Gott sei Dank nicht eingetroffen… er lacht etwas unbeholfen. Ich bin wie erstarrt. Vor meinem geistigen Auge wirbeln Bilder durcheinander: Meine Eltern gemeinsam mit uns großen Kindern und dem Besuch, der gerade aus dem Westen Deutschlands da ist, auf der Demonstration in der Leipziger Innenstadt. In Berlin feiert man sich selbst und stößt mit russischem Sekt auf den 40 Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik an. In Leipzig stehen wir den bewaffneten Polizisten und Teilen der Kampfgruppen gegenüber. Die Polizisten haben Schilde vor der Brust, die Visiere heruntergelassen, die Schlagstöcke schlagen rhythmisch auf die Schilde. Der Kreis der Bewaffneten, die der Arbeiter und Bauernstaat gegen das eigene Volk einsetzt, bewegt sich Schritt für Schritt vorwärts, weg von der Nikolaikirche hin Richtung Universität und Ring. Als die ersten Menschen schreiend auf Ladeflächen von LKW gezogen werden, nehmen meine Eltern uns mit, Richtung Ring, raus aus dem Hexenkessel. Dort erwarten uns nach einigen Metern bereits die Wasserwerfer und irgendwann sehe ich uns nur noch rennen… Das Brautpaar mir gegenüber starrt mich an. Es kann nicht ahnen, was gerade in mir abläuft, ein Film, der so intensiv berührt, dass es mir den Atem verschlägt. Ich japse nach Luft und bringe nur mühsam hervor: „ich stand dort, wo sie hinschießen sollten…“ Stille. Keiner rührt sich. „Hätten sie auf mich geschossen, wenn der Befehl gekommen wäre?“, frage ich den Bräutigam. Der druckst herum, spricht von Befehlen, er sei doch auch nur Ausführender, Befehlsempfänger gewesen. Die Worte rauschen an mir vorbei. Ich muss es wissen! Wie kann ich dieses Paar vor Gottes Altar einsegnen, wenn ich nicht weiß, ob ich diesem Mann in die Augen sehen kann? Die Stille dehnt sich aus, sie wird erdrückend. Dann sagt er leise: „Wenn ich ehrlich bin, ja. Ich habe damals gedacht, dass es richtig sei.“ Ich erzähle dem Paar meinen Teil der Geschichte und beende für diesen Tag das Gespräch. In der Zeit bis zum nächsten Termin, gehen wir eine Runde spazieren: Zeit zum Reden, Schweigen und Ringen um den Umgang mit der eigenen Geschichte in der Lebensgeschichte des Anderen…
Liebe Schwestern und Brüder, in diesen Tagen werden Geschichten erzählt. In diesen Tagen wird Geschichte erzählt. Nicht zum Sich-gegenseitig-auf-die-Schultern-Klopfen, dazu ist kein Anlass. Wenn ich höre und lese, was Menschen im Sommer und Herbst 1989, in den Jahren bis dahin in und den Monaten danach erlebt haben. Wenn ich erinnere und bedenke, was ich in dieser Zeit erlebt habe, wird mir vieles bewusst. Eines aber überdeutlich: Es war Gnade! Es hätte alles ganz andere kommen können… Wer von den Vorhaben und Plänen gehört und gelesen hat, die die DDR-Regierung im Falle eines Überlebens der Machtverhältnisse in der Schublade fertig ausgearbeitet und vorbereitet hatte, kann sicher mit mir in die Schlussfolgerung einstimmen: Alles Gnade!
Ich lese einen Abschnitt aus dem Alten Testament, dem Buch des Propheten Jesaja: „So spricht der Herr, der Erlöser Israels, (…) Fürsten sollen niederfallen um des Herrn willen (…) der dich erwählt hat. (…) Ich habe dich erhört zur Zeit der Gnade und habe dir am Tage des Heils geholfen und habe dich bereitet und zum Bund für das Volk bestellt, dass du das Land aufrichtest und das verwüstete Erbe zuteilst, zu sagen den Gefangenen: Geht heraus!, und zu denen in der Finsternis: Kommt hervor! (Jes 49,7-13 in Auswahl)
Es gehört zu den eindrücklichen Erfahrungen der Friedensgebete, wie sie seit den späten siebziger und zeitigen achtziger Jahren in unseren Kirchen gehalten wurden und im Sommer und Herbst 1989 zu ungeahnter Relevanz kamen, dass die alten Texte der Heiligen Schrift in einer Unmittelbarkeit sprachen, als wären sie direkt in unsere Situation hineingesagt! Und das erging nicht nur jenen so, die mit der Bibel vertraut waren. Manchmal, so erinnere ich mich an diese Zeit in Jena, haben wir nach dem Verlesen der ausgesuchten Verse für das Friedensgebet einfach Stille gehalten, weil das Wort selbst wirken sollte. Und wirkte. Eine Erfahrung, an die ich in unserer Kirche heute wieder anknüpfen möchte.
Zeit der Gnade. Gnade, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Zugang zu Informationen und Wissen zu erhalten. Gnade, auf Menschen zu treffen, die einander vertrauen, dieselbe Sprache fanden und sich miteinander verbanden. Gnade, geöffnete Räume zu finden – wie Kirchen auch hier in Gera – Räume, wo das Gesetz der Unantastbarkeit der Person in den meisten Fällen auch gegen die Staatsgewalt durchgesetzt werden konnte. Gnade, in Rituale einzutauchen, die die Situation aufnahmen und hielten, was sie versprachen: Lesungen, Fürbitte, Gebete der Sorge und des Dankes, Liedverse, Musik, Kerzen. Das war da, stand uns zur Verfügung, wir mussten es nur nutzen. Gnade, eine Zeit der Gestaltung zu haben, politische Konzepte in durchgemachten Nächten zu erstellen, Eingaben zu schreiben und Bündnisse zu gründen. Aber vor allem das: So spricht der Herr: Ich habe dich erhört zur Zeit der Gnade und habe dir am Tage des Heils geholfen.“ Geführt, bewahrt, gesegnet worden zu sein.
Und heute? Dreißig Jahre danach sind wir im Gedenken und zum Dank an diese Zeit versammelt. Im Vertrauen darauf, dass das Wort Gottes auch heute in unsere Situation hinein sprechen kann, lese ich Zeilen aus dem Neuen Testament. Paulus schreibt: (2 Kor 6,1-2 nach Luther 1984): „Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. Denn er spricht (Jesaja 49,8): »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“
Es ist immer noch, es ist wieder Gnadenzeit! Wir leben in einem Land, in dem wir der freien Ausübung unseres Glaubens versichert sind. In einem Land, in dem viele von uns keine Existenzängste, keine Sorge ums nackte Überleben haben. Wir leben im Frieden. Wir leben in einer Zeit, in der unsere Meinung frei in den demokratischen Diskurs einbringen können. In einem Land, das um die Gestaltung seiner Gesellschaft ringt und uns als Akteure braucht. Wir leben in einer Zeit, die noch immer das Potential bietet, die Verhältnisse zu gestalten. Das ist Gnadenzeit! Philosophie und Theologie kennen in diesem Zusammenhang einen Begriff, der das punktgenau beschreibt: Der kairos. Wort für einen von Gott gegebenen Zeitpunkt, eine besondere Chance und Gelegenheit, den Auftrag zu erfüllen.
Ihr Lieben, dieser kairos, dieser Zeitpunkt, diese Chance und Gelegenheit ist jetzt! Gott schenkt Gnade. Zu allen Zeiten hat es Gnadenzeit gegeben. Diese aber ist uns nicht verfügbar. Wir haben kein Anrecht darauf, können keine Forderung nach ihr stellen. Gnadenzeit ist Gnade. Das zu wissen, macht mich demütig. Und dankbar. Gott ist es, der uns damals und heute Leben ermöglicht. Gott war und ist es, der uns in die Freiheit entließ.
Vor drei Wochen wurde unser ehemaliger Bundespräsident Joachim Gauck im Deutschlandfunk(1) interviewt. „Haben Sie Sorge um Deutschland?“
Gauck: „Na ja, also ein bisschen besorgt bin ich schon. Wir können es auch versauen. Und deshalb dürfen wir nicht einfach abwarten. Demokraten müssen agieren und sie müssen auf die Veränderungen reagieren und sie müssen die Ängste bemerken und dann dagegen stellen, womit wir unsere Ängste besiegen können. Und wissen Sie, das sind keine Zaubermittel, sondern dieses Land hat in seiner Geschichte aus einem unglaublich tiefen Fall und aus einer unglaublichen moralischen Verkommenheit heraus eine Form des Lebens gefunden, die andere veranlasst, hier wohnen zu wollen, und die uns selber das Gefühl macht, wir sind bei uns angekommen, bei Recht und bei Freiheit. Wir haben nicht alle Probleme gelöst, nein und nimmermehr, nein. Aber wir sind doch glaubhaft geworden. Und diese Erfolgsgeschichte bei der Errichtung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und einem menschenfreundlichen Lebensraum, das hat doch Menschen stark gemacht. Und anders als in der Weimarer Zeit zwischen den Kriegen sind jetzt mehr Menschen, die erlebt haben, was an Positivem geht, und diese Menschen sind auch in Ostdeutschland in der Mehrheit.“
Liebe Gemeinde, nutzen wir die Gnadenzeit. Den kairos, diese uns geschenkte Gelegenheit. Lassen wir uns um Gottes- und der Menschen Willen nicht einlullen in Ablenkung und Bequemlichkeit, die uns in Lethargie versetzen und schläfrig machen will. Lassen wir uns nicht von der Gleichgültigkeit vereinnahmen, die alles dem Zufall überlässt und nur auf das Private sieht. Die großen Themen, die vor 30 Jahren standen, sind geblieben: für den Frieden auf dieser Erde zu sorgen, einzutreten für die Gerechtigkeit, die immer zuerst die Gerechtigkeit für den Nächsten ist und die Bewahrung dessen, was uns und unseren Kindern das Leben auf diesem Planeten ermöglicht.
Ja, es steht viel auf dem Spiel. Und ja, es ist möglich. Denn ER, Gott, spricht: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“
Amen
Und der Friede Gottes…
Lied: „Sonne der Gerechtigkeit“