02.07.2024
Gottesdienst am Lutherstein in Stotternheim, 02.07.2024, OKR Dr. André Demut

zum Gedenken an Luthers Lebenswende im Gewitter bei Stotternheim am 2. Juli 1505    

Dienstag, 02. Juli 2024 um 19 Uhr

Predigt zu Markus 1,1+14-15

 

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen!

Liebe Gemeinde,

für die Predigt hier in Stotternheim habe ich einen kurzen Abschnitt aus dem Markusevangelium ausgewählt.

Ich lese uns den allerersten Vers in diesem Evangelium und dazu noch zwei Verse etwas weiter hinten im ersten Kapitel, so steht geschrieben:

„1 Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.

14 Nachdem aber Johannes (der Täufer) überantwortet war, kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium Gottes 15 und sprach:

Die Zeit ist erfüllt,

und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.

Tut Buße und

glaubt an das Evangelium!“

Ich dachte, das passt ganz gut:

Beim Evangelisten Markus damals schlug ein greller Blitz ein:

die Erleuchtung durch die Offenbarung Gottes

in Jesus Christus –

und der Donner von diesem Einschlag rollt noch immer durch die Welt ….

und beim Jura-Studenten Martin Luder schlug am 2. Juli 1505 auch ein Blitz ein.

Bei Luder war das noch nicht die Erleuchtung durch das befreiende Evangelium …

Bekanntlich war der Blitzeinschlag von Stotternheim für den jungen Studenten ein Angstverstärker und keine Befreiung … aber immerhin:

die Kirchengemeinde Stotternheim feiert hier jedes Jahr am 2. Juli einen Gottesdienst.

Natürlich war dieser Blitzeinschlag die Initialzündung für das, was dann zwölf Jahre später als evangelischer Donner beginnen würde, durch die Welt zu rollen …

ebenfalls bis heute.  

Die Schreibweise seines Namens hat Luther erst zu jener späteren Zeit von „Luder“ in „Luther“ geändert – in Anlehnung an das griechische Wort „eleutheros“ – der Freie.

Ein freier Mann, eine freie Frau –

freigemacht durch das Evangelium von Jesus Christus.

Freigemacht nicht durch Selbst-Ermächtigung und Selbst-Beauftragung, sondern durch einen Licht-Bogen, der von außen und von oben kommt.

Martin Luther war offensichtlich ein Mensch, bei dem die Membran zwischen Innen und Außen sensibler, feinfühliger war als bei anderen Menschen.

Es hat ihn erschüttert, was da geschah – und er hat sein Leben geändert.

Natürlich ist da nicht vom 2. auf den 3. Juli 1505 plötzlich alles anders geworden.

Doch Luther hat innegehalten.

Er hat sich beeindrucken lassen.

Er hat die Richtung geändert … und das Klopfen an der Klosterpforte in Erfurt, nur vierzehn Tage nach dem Gewitter hier in Stotternheim, war der nächste Schritt in die neue Richtung.

 

Viele andere Menschen hätten nach dem Gewitter vor Stotternheim ihr Leben noch lange nicht geändert.

Es gibt eine spöttische Bemerkung von Karl Barth, der mit Blick auf das beliebte Sprichwort „Not lehrt beten.“ im zweiten Weltkrieg kommentierte:

„Ach was, >Not lehrt beten<, das stimmt doch hinten und vorn nicht:

Nach dem Bombenangriff wird der Schutt weggeräumt, das Casino und das Lichtspieltheater öffnen wieder und das Leben geht genauso unbeeindruckt wie zuvor einfach weiter …“

Ich bin sicher: Viele andere Menschen hätten nach einem Gewitter vor Stotternheim ihr Leben noch lange nicht geändert. 

Luther dagegen hatte etwas vernommen, was wir mit dem Ruf Jesu vom Beginn des Markus-Evangeliums in Verbindung bringen können:

 

Kehr um!

Fang neu an! 

Du musst dein Leben ändern!

Glaube an das Evangelium!

 

Ans Evangelium glauben zu können – da hat Luther eine Weile gebraucht. 

Doch das:

„Stop! Fang nochmal neu an!“ – das hat er im Juli 1505 gehört und entsprechend gehandelt.

Er war ein Mensch, bei dem die Membran zwischen Innen und Außen sensibler, feinfühliger war als bei anderen.

Luther hat intensiver hingehört als andere,

er hat intensiver hingesehen,

seine Fähigkeit zur intensiven Wahrnehmung war sehr ausgeprägt,

und intensiv hat er die Worte gewogen, geschmeckt, meditiert, die er in der Bibel fand.

Natürlich war Luther auch ein Sprachschöpfungs-Genie – als solcher ist er häufig gewürdigt worden.

 

Was dabei übersehen wird, ist die Tatsache, dass vor dem Sprechen das Hören kommt.

Jeder Mensch lernt sprechen, weil er die anderen reden hört.

Luther konnte wunderbare Sprachbilder prägen, weil er zuvor besonders genau beobachten, wahrnehmen und sich beeindrucken lassen konnte.

Die sinnliche Wahrnehmungs-Membran war bei ihm besonders sensibel.

Es gibt ein wunderbares Gedicht von Reiner Kunze, „Dimension“ lautet die Überschrift.

Es entstand nach der Übersiedlung Kunzes aus der DDR in die alte Bundesrepublik, also nach 1977 und ist veröffentlicht in einem Lyrik-Band Kunzes, der 1981 erschien.

 

1981 – also zu einer Zeit ohne Internet und ohne Smartphones und ohne sogenannte „soziale Medien“.

Auch privates Fernsehen gab es noch nicht, das ging in der alten Bundesrepublik erst 1984 an den Start.

Die Menschen damals muss eine große Stille umgeben haben.

Sie waren nicht umgeben von tausend Stimmen und zehntausend Bildern – sie müssen doch die Muße gehabt haben, einander wirklich zuzuhören.

Könnte man meinen …

Die Älteren unter uns können mal in sich gehen, wie sie das damals erinnern …

Und wer wie ich damals in der ehemaligen DDR gelebt hat – für den war es unter Umständen noch viel stiller als in der alten Bundesrepublik.

Was zeigt sich in unserer Erinnerung wirklich – den Älteren unter uns, den ehemaligen DDR-Bürgern und den damaligen Alt-Bundesrepublikanern? 

Reiner Kunze jedenfalls dichtete um das Jahr 1980 herum in der alten BRD:

Gern setze ich mich zum taubstummen, mit den lippen

wörter schälen

Zuhören kann fast nur noch der taube

Er will verstehen

….

Gern setze ich mich zum taubstummen, mit den augen

hören, wenn ringsum sich die stimmen

überschlagen[2] 

Ich fürchte, Reiner Kunze hat Recht.

Auch wenn es um 1980 herum noch kein Stimmengewirr aus hunderten Fernseh- und Radiosendern sowie aus sogenannten „sozialen“ Medien mit mehr oder weniger seriösen Informationen gegeben hat:

Das Missverstehen,

das Missverständnis,

die verstopften Ohren,

das nicht-verstehen-wollen des Anderen war damals schon

nicht die Ausnahme,

sondern die Regel.

Zuhören kann fast nur noch der taube

Er will verstehen

Es ist eine anspruchsvolle Übung, in einem Gespräch der Anderen, dem Anderen erst einmal in Ruhe zuzuhören.

Ich muss es üben,

ohne bewusste Verzerrung,

ohne böswillige Unterstellung

erst einmal für mich selbst nachzuzeichnen, was ich gehört habe, was ich meine, dass der Andere hat sagen wollen –

und dann erst antworte ich,

dann erst entgegne ich etwas,

wenn ich die Dinge anders sehe als er oder sie.

Ich muss oft an dieses Gedicht Reiner Kunzes aus dem Jahr 1980 denken

wenn ringsum sich die stimmen

überschlagen

im Jahr 2024 …

… wenn einer den anderen versucht zu überbieten

mit Superlativen,

mit Aufregern,

mit bombastischen Übertreibungen in den Debatten, die wir heute führen.

Kehrt um!

Hört auf damit!

Hört erstmal zu, bevor ihr redet!

Hört erstmal wirklich zu, bevor ihr etwas erwidert!

Und vor allem:
Glaubt an das Evangelium!

Vertraut darauf, dass der Geist Gottes noch lange nicht am Ende ist:

mit seiner Kreativität,

mit seiner Geduld

mit seinem Erfindungsreichtum für gute Lösungen

für die Zukunft dieser Welt,

für diese Menschheit,

für diese Bundesrepublik Deutschland mit allem Licht und allem Schatten,

und für unser kleines, aber feines Thüringen …

noch lange nicht am Ende ist …!

Hört nicht auf die apokalyptischen Untergangsprediger – egal, ob sie nun von rechts oder von links

um eure knappe Aufmerksamkeit kämpfen!

Lasst sie quatschen, lasst sich schwurbeln – von Untergang des Abendlandes oder von „letzter Generation“ – eure Lebenszeit ist zu schade, euch von Apokalyptik lähmen zu lassen!

Glaubt lieber an das Evangelium - die Liebe Gottes trägt uns und sie hat einen unfassbar langen Atem – das können wir uns gar nicht vorstellen.

Glaubt an das Evangelium.

Kehrt um!

Hört auf damit, einander zu agitieren mit euren Forderungen und Appellen, wenn ihr nicht wenigstens ab und zu versucht, dem Anderen, der Anderen erstmal zuzuhören, bevor ihr selbst redet!

Macht es ein bißchen wie Martin Luther, der auch erstmal intensiv hingehört hat,

hingehört auf solch einen Blitzeinschlag,

hingehört auf die Worte der Heiligen Schrift,

hingehört auf die Signale aus seiner Umgebung,

aus seiner Gesellschaft und seiner Kirche …

bevor er selbst geredet hat.

Und der Friede Gottes, der höher ist als aller Menschen Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in diesem Evangelium von Jesus Christus, unserem Herrn.

 

[1] Wegen des Regenwetters kurzfristig in die Kirche St. Peter und Paul zu Stotternheim verlegt.

[2] in: Reiner Kunze, auf eigene hoffnung. gedichte, Frankfurt / Main 1981, 70.


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