24.05.2021
Gottesdienst in Kranichfeld und Dörflas, Pfingsten 2021, Predigt zu Num 11 von Dr. Friederike F. Spengler, Regionalbischöfin der Propstei Gera-Weimar
Gnade sei mit Euch…
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe Kirche Jesu Christi!
Pfingsten ist deine Geburtsstunde, ganz unbestritten. Denn ohne Gottes LebensGeist wärst du nicht auf der Welt. Du bist ein Wunderkind, Kirche. Von Anfang an. Ins Leben gerufen durch Gottes Geist. Pfingstwunder sagen wir und denken an die Geschichte, die die Ängstlichkeit der Jünger mit Be-Geisterung überwand. Verbarrikadiert in ihrer Furcht, die Türen verrammelt, so lebten sie. Keiner sollte sie aufspüren können, jeder Schritt nach draußen bedeutete Gefahr. So suchten sie die Sicherheit, blieben unter sich und bemitleideten sich selbst. Verbanden ihre Wunden, denn alles schmerzte. Der Abschied von Jesus saß ihnen noch in den Knochen. Was nützten ihnen denn diese ganzen Geschichten über das Erscheinen des auferstandenen Herrn? Sicher, inzwischen hatte er sich ihnen allen gezeigt, hatte ihnen seinen Frieden zugesprochen. Aber dann war er in den Himmel entschwunden und innerlich standen seine Jünger noch immer und starrten ihm nach.
Erstarrt.
Liebes Geburtstagskind, 2000 Jahre bist du alt. Und das, was mir bei manch einem Geburtstagsbesuch so leicht über die Lippen kommt, nämlich ein charmantes „Ihr Alter sieht man Ihnen aber gar nicht an!“, käme mir bei dir nicht in den Sinn. Ja, du siehst ganz schön alt aus, liebe Kirche! Was ist aus dir geworden? Wo ist das Wunderkind in dir? Wo der Geist des Anfangs? Wo deine erfrischende Offenheit und Sprachfähigkeit? Wo deine Fröhlichkeit, die man sich vor 2000 Jahren nur mit erhöhtem Weinkonsum erklären konnte?
Wenn ich dich heute so ansehe, dann kommt mir Mose und das Volk Israel in den Sinn. Jene Geschichte, die uns die hebräische Bibel so unverstellt ehrlich erzählt, dass sie erlebt sein muss: (Numeri 11)
11 Und Mose sprach zu dem Herrn: Warum bekümmerst du deinen Knecht? Und warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volks auf mich legst? 12 Hab ich denn all das Volk empfangen oder geboren, dass du zu mir sagen könntest: Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt, in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast? …14 Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer. 15 Willst du aber doch so mit mir tun, so töte mich lieber, wenn anders ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe, damit ich nicht mein Unglück sehen muss.
Be-Lastet.
So erlebe ich dich, liebe Kirche: Ich höre Menschen zu, deren ehrenamtliche Aufgaben längst das Maß übersteigen: Die ihre Ortsgemeinden im Gemeindekirchenrat leiten und/oder als Lektoren und Prädikanten selbst gottesdienstliches Leben ermöglichen. Daneben aber auch den Gemeindebrief herausgeben. Und die Schaukästen bestücken. Natürlich schreiben sie auch Förderanträge und organisieren den Arbeitseinsatz. Sie halten die Kirchen offen und läuten die Glocken. Und wenn Kuchen fürs Gemeindefest gebraucht wird, backen sie. Selbstredend fahren sie los, die Konfirmanden von den Dörfern zusammen zu holen und bringen auf der Rückfahrt gleich noch Blumen für den Altar mit. Ich höre Menschen zu, deren hauptamtliche Aufgaben längst das Maß übersteigen. Die Andachten und Gottesdienste analog und digital zugleich vorbereiten. Und ihre Predigten gehen in Briefform an alle Haushalte. Wenn nicht anders möglich, machen sie ihre Besuche eben an der Gartentür und halten so die Abstandsregeln nur äußerlich ein. Sie überwinden bürokratische Hürden, um möglichst auch jetzt Kranke besuchen zu können und Sterbende auszusegnen. Sie begraben die Toten und trösten Trauernde. Geflüchtete wohnen in ihren Häusern mit und werden auf Ämter begleitet. Die Konfirmandenarbeit gelingt zusehends per Computerbild und den Seniorenkreis halten sie mit Telefonkonferenzen am Leben. Sie leiten die notwendigen Sitzungen kurzerhand in den luftigen Kirchenräumen, während das ganz normale Pfarramt wie gewohnt weiterläuft. Ich höre Menschen, die mir nach dem Gottesdienst in der kleinen Dorfgemeinde, in deren Kirche sie zum Karfreitag gerade 14 Leute sind (den Kantor und mich mitgerechnet), am Ausgang sagen: „Ach, wissen sie, wir werden immer weniger. Mal sehen, wer von uns eines Tages hier das Licht ausmacht.“
So sehe ich dich, Kirche, und unter der Last des Tuns bist du grau geworden vor Arbeit und Mühe. Du läufst dem Sehnsuchtsbild der Stärke und der Relevanz, dem Wahn, etwas zu bedeuten und gehört zu werden, nach. Du misst dich in Zahlen und registrierst nur das, was in den Kirchenbüchern eingetragen steht. Deine mageren Kollekten treiben dir die Schamröte ins Gesicht und jede Umfrage zur Aufrechterhaltung der Kirchensteuer lässt dich an dir selbst zweifeln. Ja, zugegeben: Deine Versuchung ist auch meine Versuchung - alles am Laufen zu halten, noch mehr und effizienter zu arbeiten und möglichst überall gleichzeitig zu sein. Und dabei verlierst du das Wunder aus den Augen, dem du dich verdankst: Das Wunder des Geistes! Mose bricht aus dem Kreislauf von Anmaßung und Anspruch aus. Er frisst seine eigene Begrenztheit nicht mehr in sich hinein, ist sich nicht selbst genug. Mose rennt auch nicht mehr dem eigenen Anspruch hinterher. Er unterbricht sich vielmehr selbst. Und, Mose klagt seine Last Gott ins Ohr, legt sie ihm ans Herz.
Und Gott, der Herr antwortet.
16Und der Herr sprach zu Mose: Sammle mir siebzig Männer unter den Ältesten Israels, von denen du weißt, dass sie Älteste im Volk und seine Amtleute sind, und bringe sie vor die Stiftshütte und stelle sie dort vor dich, 17so will ich herniederkommen und dort mit dir reden und von deinem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen, damit sie mit dir die Last des Volks tragen und du nicht allein tragen musst…
Das Wunder des Geistes: Gott öffnet Mose die Augen für Menschen, die um ihn sind und deren Fähigkeiten er bisher weder gesucht noch gesehen hat. Mose wird beauftragt, sie mit ihren Begabungen wahrzunehmen. Erst durch diese Hinwendung, dieses Hinsehen nimmt er wahr, dass da Menschen mit ihm unterwegs sind, mit denen er Leitungsverantwortung teilen kann. Gott verteilt die Arbeit auf die Schultern vieler, damit niemand unter der Last der Aufgaben zerbrechen muss.
Ist Gott so am Werk, wie etwa jene Organisationsentwickler, die zu dir, Kirche kommen und einen Plan erstellen für effizientere Abläufe? Oder so, dass um der Sehnsucht nach Veränderung willen so lange gekürzt wird, dass nichts mehr übrigbleibt als Enttäuschung? Oder so, dass man nur die äußeren Bedingungen modernisiert und anpasst und meint, das Innere käme von selbst dazu? Nein, nein und nochmals nein! Gott handelt anders und Mose führt es aus! Kirche, sieh hin:
24 Und Mose ging heraus und sagte dem Volk die Worte des Herrn und versammelte siebzig Männer aus den Ältesten des Volks und stellte sie rings um die Stiftshütte. 25Da kam der Herr hernieder in der Wolke und redete mit ihm und nahm von dem Geist, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Und als der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf.
Mose rechnet mit Gott und vertraut dessen Wort. Über alles Bitten und Verstehen hält er sich fest an der Zusage, die ihm gegeben ist. Der Vers „…der Herr …nahm von dem Geist, der auf ihm (Mose) war und legte ihn auf die siebzig Ältesten“ hat die Rabbinen immer wieder beschäftigt. Was tut Gott hier, wenn er Mose etwas nimmt und es auf andere verteilt? Die jüdischen Gelehrten sind sich einig: Gottes Geist wird um nichts weniger, wenn er verteilt wird, sondern vervielfacht sich. So wie Kerzen an einer brennenden Kerze entzündet, das Licht vervielfachen. Gott selbst legt den Geist auf die Ältesten. Dadurch aber, dass Gott von dem Geist des Mose nimmt und austeilt, werden sie alle eines Geistes Kinder! Liebe Kirche!, was wäre wenn…
Was, wenn die Christen in dir alle eines Geistes wären? Nicht auszudenken! Was, wenn wir Predigerinnen und Prediger in den verschiedenen Ämtern, die Ältesten, die Mitarbeiter in den Gemeinden, als Geistbegabte ansähen und als solche ernstnehmen? Was, wenn wir uns nicht andauernd um uns selbst drehen, sondern um die anderen kümmern würden, um unserem Auftrage gemäß, „Kirche für andere“ zu sein? Was, wenn wir uns des Wunderkindes in uns besinnen würden: Nicht aus uns heraus, aus eigener Kraftanstrengung zu leben, sondern uns auf die Kraft Gottes zu verlassen, der da spricht: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in der Schwachheit mächtig!“?
Ich träume dich schon, du Kirche aus dem Geist des Pfingstfestes. Mit meinem Herzen kann ich dich schon sehen: Im Geist der Gemeinschaft vereint. Gerufen in die Welt. Beseelt von seinem Geist. Aufgerüttelt und aufgerufen. Der Geist Gottes macht frei: - vielleicht so, wie der Pfarrer und Dichter Kurt Marti es beschreibt:
Heiliger Geist?
Kein römischer Brunnen,
wo Wasser sich
über Stufen und Schalen
hierarchisch
von oben nach unten
ergiessen.
Heiliger Geist:
Quellen,
aufstossend, aufbrechend
von unten
– an der Basis, ja! –
unauffällig, heimlich zunächst,
erzwingbar nie.
Und jener weise Pfarrer,
der sagte: Meine Arbeit?
Die eines Rutengängers,
der die Gemeinde durchstreift,
nach Quellen suchend,
die ohne mein Zutun sprudeln.
aus: Kurt Marti, «Die gesellige Gottheit»
Liebe Gemeinde, träume diese Kirche mit mir! Erwarte sie. Gott behält das erste und das letzte Wort, auch das in seiner Kirche. Das Pfingstfest ist so aktuell wie nie, niemals von gestern. Nur von morgen. Mit einem Wunder hat alles begonnen. Mit einem Wunder wird es einst enden. Das soll mein Glaube sein. Amen