06.02.2019
Ökumenischer Gottesdienst aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums des Zusammentritts der Deutschen Nationalversammlung
Predigt zu Jer 29,7.10-14a am 6. Februar 2019 in der Stadtkirche St. Peter und Paul zu Weimar (Herderkirche)
Bischof Dr. Neymeyr:
Sehr verehrte, liebe Schwestern und Brüder,
wie ist das, wenn man fremd ist?
Die Israeliten haben es im babylonischen Exil erlebt. König Nebukadnezar hatte Israel besiegt und die Oberschicht nach Babylonien verschleppt. Dort ging es den Vertriebenen nicht schlecht. Sie konnten Eigent um erwerben und Handel treiben. Sie konnten ihre Identität bewahren durch die Einhaltung des Sabbats und der Beschneidung. Sie konnten in ihren Synagogen Gottesdienst feiern. Dennoch saßen sie an den Strömen von Babylon und weinten, wie es in Psalm 137 heißt. Die Sehnsucht nach der Heimat, nach Jerusalem beschwerte ihr Herz und Gemüt. Die Hoffnung auf eine Zukunft zu Hause, im gelobten Land, war stärker als die Zufriedenheit mit der Gegenwart in der Fremde. Da kommt ein Brief des Propheten Jeremia. Darin fordert er sie auf, sich für die Stadt einzusetzen, in der sie leben. Sie sollen dort den Schalom suchen.
Schalom, mit diesem Begriff ist in der hebräischen Bibel sehr viel gemeint. Schalom bezeichnet den Zustand und die Verhältnisse, in denen es den Menschen rundum gut geht. Es geht friedlich zu und gerecht, weil alle genug zum Leben haben. Es gibt keinen Streit und Neid. Ausgeglichen sind die Verhältnisse und ausgeglichen sind die Menschen.
Martin Luther übersetzt das schöne Wort Schalom mit „Bestes“: „Suchet der Stadt Bestes, fragt nach ihrem Frieden und setzt euch dafür ein.“ (Jer 29,7). Für die Exilierten war dies die Herausforderung: nicht nur auf die Rückkehr nach Jerusalem zu hoffen, nach Jeruschalajim, der Stadt, die das Wort „Frieden“ sogar in ihrem Namen trägt. Vielmehr sollten sie sich für den Frieden in der fremden Stadt engagieren und sich nicht heraushalten, wenn es um das Wohl aller geht.
Auch wir Christen heute nehmen den Auftrag des alten Propheten Jeremia an. Wir wollen uns nicht einreden lassen, dass Friede und Gerechtigkeit, dass Schalom nur ein Traum sei. Wir wollen uns nicht einreden lassen, das Beste für die Stadt sei ihr wirtschaftlicher Erfolg, ihre Infrastruktur und ihre Industrieansiedlungen. All das ist wichtig, aber als Christen erhoffen wir mehr, und diese Hoffnung befähigt und beauftragt uns, mitzubauen an einer Zivilisation der Gerechtigkeit und des Friedens. In unserer freiheitlichen Gesellschaft haben wir dazu alle Möglichkeiten und wir nutzen sie und wirken mit. Das war nicht immer so.
Landesbischöfin Junkermann:
Für viele, auch für viele Evangelische war die Weimarer Republik damals wie ein Exil. Sehr viele hingen noch lange an der alten Obrigkeit, der Monarchie. Diese war doch von Gott gegeben worden – und jetzt die neue Obrigkeit auch? Staat und Kirche waren nun getrennt, eine für Kirchenmenschen schmerzvolle Veränderung. Das hatten sie noch zu lernen: Sich für Schalom einsetzen, auch in der ungeliebten Republik.
Der Auftrag gilt immer: der Stadt Bestes suchen, am friedlichen Miteinander in der Gesellschaft mitwirken; darauf schauen, dass alle genug haben und zu ihrem Recht kommen. Selbst, wenn es anstrengend ist Ja, ein wirklich demokratisches Miteinander ist mitunter mühsam. Streit gehört dazu, fairer Streit. Schlimm, wenn es wie damals in der Weimarer Republik zu heftigen Kämpfen kommt.
Vor 100 Jahren haben hier in Weimar mutige Frauen und Männer die Verfassung einer freiheitlichen Demokratie entworfen, auf deren Grundlage Schalom hätte gedeihen können.
Aber die Gegner der Demokratie waren stärker. Sie versprachen einfache und radikale Lösungen. Wie unfassbar grausam und unmenschlich waren die Folgen, als die Nazis die Demokratie aushebelten und ihre Rassen- und Eroberungsideologie zum Staatsziel machten; Schalom für alle – verunglimpft und verfemt.
Wir denken an die vielen Gequälten, Gefolterten, Ausgebeuteten, Ermordeten.
Sie mahnen uns: Seht hin! Mischt Euch ein! Wehrt den Anfängen! Immer dann, wenn Ihr seht: Schalom für alle wird infrage gestellt, wird aufgeteilt in ein ‚nur wir und nicht die‘. Wie furchtbar ist diese Lektion in unserer Geschichte, wie beschämend auch, dass nur eine Minderheit der Christen und in den Kirchen dem widerstand und sich der Diktatur nicht ergeben hat. Umso klarer müssen wir heute an Gottes Willen für diese Welt erinnern: Sein Schalom gilt allen Menschen. Ohne Unterschied. Ohne Schalom für alle gibt es keine Hoffnung und Zukunft.
Bischof Dr. Neymeyr:
Wir schauen mit Sorge auf unsere heutige Gesellschaft und ihre Zukunft: gruppenbezogene Menschenverachtung findet Gehör, Antisemitismus in Worten und Taten nimmt zu, im Herzen der Demokratie in den Parlamenten wird der Ton aggressiv und polemisch.
Der Auftrag zu Schalom stärkt uns Christen in unserem Einsatz für ein freies, gleichberechtigtes, demokratisches Miteinander.
Den Müttern und Vätern der Weimarer Verfassung gilt unser Respekt und unsere Dankbarkeit.
Wenn wir heute der Weimarer Verfassung gedenken, dann sind wir uns dankbar bewusst, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vieles von der Weimarer Verfassung übernommen hat, nicht nur die Regelungen des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften. Wir sind dankbar, auf diesem Fundament mitzubauen am Schalom unserer Gesellschaft. Und wir suchen das Gespräch mit anderen Religionen und mit Menschen ohne religiöse Bindung
Landesbischöfin Junkermann:
Ja, das braucht es: dass viele mit bauen. Viele Verschiedene. Verschiedenheit macht eine Gesellschaft reich. Wie schwer war auch diese Lektion zu lernen: Wenn der Staat sich auf eine einzige Partei und ihr Programm festlegt und allen diese Werte vorschreibt: Dann stirbt die Freiheit.
„Ich schenke Euch Hoffnung und Zukunft“, diese Zusage Gottes hat in der zweiten Diktatur immer mehr Menschen bewegt, sie nicht weiter hinzunehmen. Christen taten das Naheliegende: Beten. Gott um Hilfe bitten. Und öffneten die Kirchen für die Klagen und Hilferufe, die sich bei so vielen angestaut hatten. Und alle, Christen wie Nichtchristen, gingen gemeinsam mit Kerzen aus den Kirchen auf die Straße. „Keine Gewalt!“ Was für ein Wunder bis heute: Der Kreislauf der Gewalt wurde unterbrochen. Eine friedliche Revolution auf deutschem Boden! Selbst errungene Demokratie. Mit vielen kleinen Schritten. Und vielen einzelnen Menschen mit mutigen Herzen.
Ja, Hoffnung und Zukunft gewinnen – das fängt meist klein an. Das braucht Menschen, die das Naheliegende tun und sehen, was dem Nächsten dient; die auch des anderen Bestes suchen und nicht nur das eigene.
Dafür braucht es offene Räume; wie das Familienzentrum in einer unserer Gemeinden:
Da treffen sich ganz unterschiedliche Menschen. Am meisten beeindruckt haben mich dort Jugendliche. Früher waren sie in Cliquen miteinander verfeindet, so erzählen sie mir. Jetzt backen sie gerade zusammen Kuchen. Und verzieren ihn mit ihren alten Kampfzeichen. Spuren des Streits im Zuckerguss! Und stolz erzählen sie mir: Gleich nach dem Kuchenessen beginnt unsere nächste Einheit im Streitschlichterkurs.
Das klingt vielleicht etwas klein, wenig spektakulär. Doch Hoffnung und Zukunft entsteht in kleinen, beharrlichen Schritten.
Das ist wichtig auch in der „großen Politik“.
Wir Bürgerinnen und Bürger sind stolz auf unsere Politiker, die beharrlich auf Gespräche und Diplomatie setzen und nicht (wie andere) auf Waffen. Und wir gehen auf die Straße, wenn wir Schalom bedroht sehen, wie bei den großen Rechtsrock-Konzerten hier in Themar oder, versucht, in Mattstedt, die Rassismus wieder salonfähig machen wollen.
„Suchet der Stadt Bestes! Sucht Gerechtigkeit und Frieden!“ Ein Traum? Ja, der Traum Gottes für seine Welt!
Ja, so soll es sein, bekräftigt Jeremia. Dieser Traum soll Wirklichkeit werden, dieser Traum soll Wirklichkeit bestimmen. Und Ihr, so schreibt Jeremia, Ihr alle könnt ganz konkret etwas dafür tun!
„Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“
Amen.