17.02.2019
Predigt von Pfarrerin Dr. Friederike F. Spengler am 17.02.2019 in Gera
Predigt zu Koh 7,15-18, Septuagesimae 2019, Gera, Pröpstin Dr. Friederike F. Spengler
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Der Text für heute steht im Alten Testament, im Buch Prediger im 7. Kapitel:
„Dies alles habe ich gesehen in den Tagen meines nichtigen Lebens: Da ist ein Gerechter der zugrunde geht in seiner Gerechtigkeit und da ist ein Frevler, der lange lebt in seiner Bosheit. Sei nicht allzu gerecht und sei nicht übertrieben weise. Wozu willst du dich zerstören? Sei nicht allzu ungerecht und sei kein Tor. Was willst du sterben, wenn deine Zeit nicht da ist? Gut, dass du an diesem festhältst und auch jenes nicht aus der Hand lässt, denn der, der Gott fürchtet entgeht dem allen.“
Der Herr segne an uns sein Wort.
Schwestern und Brüder – liebe Gemeinde,
die Tür ist nur einen Spaltbreit offen. Und doch schafft es eine Seifenblase hinaus ins Freie. Eine zweite, eine dritte… Neugierig öffne ich und stehe im Halbdunkel der kleinen Kapelle. Der weißgetünchte Raum gibt sich alle Mühe mit dem Licht der wenigen Fenster. In majestätischer Ruhe schwebt ein großer Taufengel über dem Gestühl. Der Altar, direkt darüber eine Abendmahlsbild. Und oben, verlängert wie ein Hochaltar: die Orgel, der Pfeifenprospekt nicht breiter als ein Tisch.
Wieder schwebt eine Seifenblase durch den Raum. Suchend schaue ich mich um. Wer bläst denn hier Seifenblasen? In einem Kirchenraum! Die Evangelisten auf dem Kanzelkorb sind ins Bild gesetzt. Und während ich mich weiter suchend umsehe, höre ich jemanden sagen: „ Alles ist eitel!“ Die Stimme kommt von einem, der sitzt auf einer Kugel, einer Weltkugel nicht unähnlich und taucht den Strohhalm in seiner Hand in das Gefäß mit Seifenlauge. Sein Bild – ein Oval an der Wand. „Hast Du gesprochen und kommen von dir die Seifenblasen?“, frage ich unnötigerweise den leicht nach hinten gelehnten Mann auf der Kugel. Er schweigt. Nach einer Weile sagt er: „Was siehst du?“ „Ich sehe Seifenblasen, die aus Deinem Bild herausfliegen und sehe Dich sprechen.“ „Und was schlussfolgerst Du daraus?“, lässt er nicht locker. „Dass Du gerade gesprochen hast und Seifenblasen machst.“ Statt einer Antwort schwebt erneut eine großbauchige, buntschillernde Kugel direkt vor mir auf den Boden. „Alles ist eitel.“, höre ich ihn wieder. „Wer bist Du?“ frage ich. Sein Bild ist nicht sonderlich groß und dafür weit oben, ich kann ihn also kaum richtig erkennen. „Man nennt mich Kohelet, oder besser ich nannte mich selbst so.“ „Dann bist Du der, den Martin Luther „Prediger“ nannte?“ „Na, mit der Assoziation zu eurem Berufsstand bin ich nicht so glücklich, das trifft es nicht, bleiben wir also bei Kohelet“, sagt er. Wir schweigen eine Weile. Gedanken rasen durch meinen Kopf. Da habe ich hier den vor mir, aus dessen knapper Schrift der heutige Predigttext stammt. Geschrieben im 3. oder 4. Jahrhundert vor Christus, nur wenige Verse werden häufig zitiert. Alle weiteren sind unbekannter. Kohelet, der so wenig Erwartbares sagte, dass der Schriftsteller Kurt Marti allen Christen, die bereits von Vornherein wüssten, was biblisch und was unbiblisch sei, dringend von der Lektüre dieser Schrift abrät, um sie nicht zu verunsichern. Kohelet, der so provokativ schrieb, dass seine Zeilen, als Voltaire sie Mitte des 18. Jahrhunderts in Französische übersetzte, noch im selben Jahr als Ketzerschrift öffentlich verbrannt wurden.
Das Lebensthema des Kohelet ist die Vergänglichkeit alles Seins. Seine Gedanken zum Thema „Zeit“ könnten auch in eine Diskussion unter Philosophen heute passen. Kohelet lebte zu einer Zeit – wahrscheinlich in Jerusalem – als sich das ihm bekannte Lebensgefüge in Windeseile veränderte. Dass, was wir heute „Hellenismus“ nennen, jene „griechisch-orientalische Welt- und Mischkultur“, nahm Fahrt auf. Kunst, Bildung und Handel explodierten förmlich, der wirtschaftliche Aufschwung blühte. Wer außen vor war und blieb, war das jüdische Volk. Seine Weisheitslehrer und alle die, die zu den Höhergestellten gehörten, brachten es wohl zu gewissem Reichtum. Allerdings waren sowohl sie selbst, als auch alle anderen Juden fremdbestimmt. Ihre Lebensweise, ihr Glaube, ihre Kultur – für die sich drehende Welt belanglos. Die sich daraus ergebende Resignation ist bei Kohelet mit Händen zu greifen. Was wird aus uns? Wie entwickelt sich diese Gesellschaft weiter? Wird unsere Zukunft eine gemeinsame sein? Eine mögliche Beschwichtigung, ein „Alles wird gut!“ suchen wir bei ihm vergebens. Auch der uns wohlvertraute Ausblick auf „Glaube, Hoffnung und Liebe“, kommt nicht vor.
Ich schaue erneut auf das Bild und suche seinen Blick. „Ein Weisheitslehrer Israels bist du also…“ nehme ich den Faden wieder auf, „der weiß, dass seine eigene Weisheit nichts wert ist“, beendet er meinen Satz. „Was weiß ich schon! Was weißt du schon!“, sinniert er. „Was habe ich alles schon in meinem Leben gesehen!“, fährt er fort. „Ich sah einen, der mit allen Fasern seines Lebens Gerechtigkeit suchte, der im Grunde seines Herzen so gut war, man hätte ihn glatt für einen Heiligen halten können!“ „Und dann?“, „Dann? Dann starb seine Frau und wenig später verlor er die Kinder bei einem Unfall, bevor er selbst elend an einer schweren Krankheit leiden musste. Ein Ende, das wünschtest du deinem ärgsten Feind nicht!“ „Und weiter?“, frage ich, „was sahst du noch?“ „Ich sah einen Ungerechten, einen Übeltuer der schlimmsten Sorte: Lüge, Geiz, Betrug, die ganze Bandbreite. Und dieser lebte bis ins hohe Alter, hatte Kinder und Enkel, nicht mit zwei Händen zu zählen!“ „Wie ungerecht!“, entfährt es mir. „Das ist nicht fair. Wer richtig und gut lebt, der muss doch mit Gottes Gnade rechnen können!“ Kohelet lächelt. „Ich habe es geahnt!“, sagt er. „Du weißt natürlich, was gerecht und was ungerecht ist und deshalb weißt du natürlich auch, wie die Sache ausgehen muss. Das ist gerecht und das ungerecht. Eindeutig! Du stellst schon gar keine Fragen mehr, nicht wahr? Das kenne ich von Euch! Höre ich hier allenthalben: Ihr stellt Antworten, geschickt verkleidet mit einem Fragzeichen und habt doch alles schon für Euch entschieden! Ihr wisst doch, was die Welt im Innersten zusammenhält. Ihr urteilt und unterteilt und grenzt ab – das ist gut, das ist böse, das ist gerecht, das ist ungerecht.“ Kohelet sieht mich provozierend an. „Willst du nicht gleich Gott dem Herrn ein wenig Nachhilfe in Sachen Gerechtigkeit geben?“ Sein sarkastischer Ton lässt mich schlucken. Betreten sehe ich auf dem Steinboden. Dort landet erneut eine Seifenblase. „Warum um alles in der Welt, nehmt ihr euch eigentlich immer selbst so wichtig“, fährt er fort. „Warum um Gottes Willen nimmst du dich so wichtig! Alles ist eitel! Der Mensch denkt wunder, was er wär. Dabei gehen sie alle dahin: die Fürsten des Landes ebenso wie die armen Schlucker.“ Als ich nicht gleich antworte, wird seine Stimme etwas milder. „Du“, sagt er, „ich kenne das. Als ich die Weisheit Israels als Gottes Wort niederschrieb, borgte ich mir damals die Autorität des berühmten König Salomos. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich anders hätte von so wichtigen Dingen reden und schreiben sollen. Also lieh ich mir seine Würde, sein Ansehen! Aber“, setzt er hinzu, „ich ließ die Maskerade bald fallen und schrieb als der, der ich war und bin: Der Kohelet, nicht mehr und nicht weniger.“ Die nächste Seifenblase segelt gerade über die Stuhlreihen und bleibt noch einen Augenblick auf einem Gesangbuch liegen. „Das mit dem Tun als Ob, das kenne ich.“, sage ich. „Wir spielen auch als Kirche oft die Alleswisser und –könner, die nur das richtige Programm finden und anwenden müssen, damit alles geht, wie es war und bleibt, wie es ist.“ Die Seifenblase zerplatzt. Kohelet spricht wieder: „Manchmal kommt es mir so vor, als würdet ihr auf euren Bühnen Durchhalteparolen ausgeben und hinter der Bühne bereits die Stühle hochstellen. Ihr palavert vom Zutrauen in die Zukunft und in den guten Willen der Menschen und schottet euch ab, damit euch beides nicht zu nahe rückt. Ihr redet laut von Gottes Reich und baut es leise lieber selbst schon mal– man weiß ja nie!“ Das sitzt! Kohelet rollt auf seinem Globus ein Stück vor, ein Stück zurück. „Und wenn wir einmal dabei sind: Was bekennt ihr euch zum Geist Gottes und habt nicht einmal den Mut, Eure Fenster und Türen aufzumachen, damit ER mal richtig durchlüften kann!“ „Moment mal!“, rufe ich, „deine Kritik will ich hören, aber gib mir die Chance, mitzureden. Also: Du meinst, wir sollten eindeutiger sein und leben, was wir predigen.“ Eine Seifenblase fliegt in Richtung Kanzel. Sie tänzelt für einen Augenblick auf der Brüstung und sinkt nach unten, auf einem der Stühle bleibt sie liegen. “Wir sollten darauf vertrauen, dass Gott ein Ziel mit uns und dieser Welt hat, auch einen Weg für seine Kirche durch die Zeiten hindurch. Wohl auch mutiger sein, Dinge einfach wachsen lassen und andere nicht künstlich am Leben erhalten. Endlich hinausgehen aus der Komfortzone unserer Institution und uns in die Freiheit der Kinder Gottes stellen: im Reden wie im Handeln.“
Wieder schwebt eine Seifenblase, diesmal landet sie auf dem Altar. „Und Gott endlich Gott sein lassen!“, sagt Kohelet. Es klingt nachdrücklich, energischer als bisher. „Wie meinst du das? Tun wir das nicht?“ frage ich. „Willst Du ehrlich wissen, was ich sehe?“ fragt Kohelet und atmet hörbar, bevor ich vorsichtig nicke. „Ich sehe, wie ihr euch Gott verstehbar gemacht habt, einen Gott zum Anfassen. So eine Art Kuschel-Gott: Alles, was nicht in euren Verstand passt, wird gestrichen und vermenschelt. Da wird schnell auch aus Jesus, eurem Bruder ein Brüderchen…“ „Halt“, rufe ich. „Entschuldige Kohelet, wir brauchen Bilder und Vergleiche! Wir sind nun mal Menschen und können nicht anders von IHM reden.“ „Mag sein“, entgegnet er seelenruhig, „aber ihr lasst darüberhinaus nichts gelten – ihr rechnet nicht mehr mit Gott als dem Unfassbaren. Ihr lasst keinen Platz für die Ratlosigkeit, die der verborgene Gott auslöst. Ihr zerklärt nicht nur die Welt, sondern auch IHN. Ihr maßt euch an, IHN zu begrenzen. IHN, der da spricht:‚Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und meine Wege sind nicht eure Wege‘, kommt dir das bekannt vor?“ Ich nicke. „Das Nicht-Verstehen fällt mir schwer, ich möchte IHN so gern begreifen“, räume ich ein, „und dabei sollte ich es besser wissen: Gerade das Anstößige, das Nicht-Begreifbare, das ganz und gar Befremdliche ist das, was Gott eben auch ist. Und uns dabei immer wieder überrascht.“
Für einen Augenblick ist es still in der Kapelle. „Dann lies doch mehr in seinem Wort“, sagt Kohelet zu mir. „ Hat nicht dieser Jesus selbst immer wieder in Gleichnissen und Geschichten davon erzählt, dass Gott nicht fassbar ist? Dass das Leben mitunter ganz anders verläuft, als es den Anschein hat? ‚Ich habe den ganzen Tag im Weinberg gearbeitet. Warum bekomme ich nicht mehr als der, der erst am Nachmittag begann?‘ Verstehst du, was ich meine? Es ist Dir aus der Hand genommen, was Gott tut. Du kannst IHN nicht bestechen mit einem ethisch einwandfreien Leben. Er lässt sich nicht vereinnahmen, indem ihr moralisch natürlich stets allen eine Nasenlänge voraus seid. Und er lässt sich ebenso wenig von denen herausfordern, die ihn ignorieren und sich seinem Willen entziehen.“
Mir fallen Sätze ein, die er, Kohelet, geschrieben hatte. Immer wieder habe ich sie durchbuchstabiert und konnte sie nicht verstehen: „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest. Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht stirbst vor deiner Zeit.“ Kohelet scheint meine Gedanken lesen zu können, die nächste Seifenblase kommt auf mich zu. „Sieh doch hin!“, fordert er mich auf. „Keiner kann seine Zukunft erzwingen. Sie steht in Gottes Hand. Gnade ist es, dass du lebst und wie du lebst. Das muss dir genug sein. Ich nenne es übrigens „Gottesfurcht“. Ein passendes Wort, findest du nicht auch? Ihr seid gerade dabei, es abzuschaffen. Dabei sagt es so viel über Euch und über Gott. Es heißt: Gott Gott sein lassen. Und sich damit begnügen, dass ER weiß, was ER tut. Euch bleibt, diese Ehrfurcht zuerst ihm und dann seinen Geschöpfen gegenüber zu leben. Was du bist, was du kannst, was du hast: Sieh es als Geschenk. Eine kleine Weile dir anvertraut… “
„Ich glaube“, sage ich, „ich muss dringend gründlich über alles nachdenken.“ „O, bloß nicht zu tiefsinnig!“, ruft er und hält den Strohhalm in die Luft. Etwas Seifenlauge tropft auf die Erde. „Jedenfalls nicht in den Elfenbeintürmen, in die ihr euch dazu so gern zurückzieht! Denke darüber lieber auf der Straße nach, suche SEIN Gesicht in den Gesichtern der Menschen, denen du begegnest. Und dann sei selbst barmherzig, so wie ER, sonst ist es bald aus und vorbei mit Euch.“ Kohelet lässt eine Pause, um eine neue Seifenblase aufsteigen zu lassen, „Weißt du, ich war nie ein Mensch, dem große Bilder oder Visionen geschenkt waren. Kein Seher im religiösen Sinne. Ich sehe und beobachte das Leben und erkenne darin Gottes Gnade, sein Werk. Das ist die Zukunft.“ „Und dabei helfen dir die Seifenblasen?“, frage ich. Direkt vor meinem Gesicht zerplatzt eine. „Siehst du?“ sagt er, „Seifenblasen relativieren alles, vor allem aber dich selbst. Wenn sie fliegen, lernst du etwas über die Freiheit. Zerplatzen sie, lernst du, dich nicht selbst zu überschätzen.“
Eine kleine Weile ist Ruhe. Kohelet leitet mich an, selbst zu sehen. Stumm reicht er mir seinen Strohhalm. …(Seifenblasen)…
Und mit den ersten glänzenden Kugeln, die sich im Kirchenraum verteilen, hat nur noch ein einziger Gedanke in mir Platz: „Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“
Amen
Und der Friede Gottes…
P.S.
Angeregt durch die Beschäftigung mit dem Predigttext, fiel mir ein Bild ein, welches ich vor Jahren in der Kapelle der Burg Bodenstein entdeckt hatte. Es zeigt die Darstellung der „Vanitas“, der „Vergänglichkeit“. Für mich wurde die Figur zum Kohelet.