09.11.2019
Predigt von Landesbischof Friedrich Kramer und Landesbischof Dr. Christoph Meyns zum 30-jährigen Gedenken des Mauerfalls am 9. November 2019 in Marienborn

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Festgemeinde!

I. LB Kramer
Was für ein Tag an den wir uns heute erinnern! Ein großer Tag in der deutschen, ja in der Weltgeschichte. Eine Mauer ist gefallen und es ist ein Tag des Heils gewesen mit der großen Chance, dass Deutschland und seine Wunden heilen können. An einem solchen Tag erzählen wir uns Geschichten. Wo warst Du damals, wie hast Du das erlebt und was bedeutet es für heute, wenn wir unsere Erfahrungen im Lichte der Bibel ansehen?
Ich war am 9. November in Berlin – Ostberlin. Wir hatte gerade darüber diskutiert, wie wir am 10. November die Auszählung an der Universität machen. Wir hatten einen Studentenrat gewählt und eine Urabstimmung in der Uni bewirkt um zu klären, wer soll die Studierenden vertreten. Die FDJ oder der Studentenrat. Und in der Nacht konnte meine Frau schlecht schlafen, da sie Zahnschmerzen hatte. Zweimal war sie beim Zahnarzt gewesen und hatte keine Behandlung bekommen, weil die Schwestern jeweils gerade in den Westen abgehauen waren über Ungarn.
Plötzlich klingelte die Tür mitten in der Nacht und eine Kommilitonin, die ebenfalls einige Wochen vorher in den Westen gegangen war stand vor der Tür und sagte: Ihr müsst mitkommen, sie tanzen auf der Mauer! Da haben wir unsere Tochter geweckt, ein paar Unterlagen eingepackt, falls die Mauer wieder zu geht und sind mit nach Westberlin gefahren. Wir haben mit an der Mauer getanzt und gelacht und uns mit wildfremden Menschen umarmt. Es war eine wahnsinnig befreite und überschwenglich fröhliche Stimmung. Dann sind wir noch durch die Stadt, waren im Bonhoeffer-Archiv, weil der Freund unserer Freundin dort arbeitete und sind pünktlich am morgen zurück nach Ostberlin, weil ja die Auszählung der Abstimmung war. Wer nicht zurückkam, sondern weiter in Westberlin flanierte waren die FDJ ler.

II. LB Meyns
Wieso der 9. November 1989? Für mich hat sich die Mauer am 10. November geöffnet. Im April 1989 flog ich nach dem Abschluss meines Studiums nach Papua-Neuguinea und bin erst im März 1990 nach Deutschland zurückgekehrt. Am 9. November befand ich mich 14.000 km von Marienborn entfernt auf einer abgelegenen Missionsstation mitten im Tropischen Regenwald. Nur Französisch-Polynesien liegt noch weiter weg. Es gab keinen Strom, kein Fernsehen, kein Handy, kein Internet. Mich beschäftigten Fragen wie der Schutz vor Malaria, Giftschlangen, Krokodilen, herabfallenden Kokosnüssen und wie man als lutherische Kirche in einem Land arbeitet mit 860 Sprachen und einer Bevölkerung, die erst seit zwei Generationen überhaupt Kontakt zur Außenwelt hat und von denen viele noch heute wie in der Steinzeit leben. Ich beschäftigte mich mit der Kultur Melanesiens und absolvierte einen Selbstverteidigungskurs bei den US-Marines.
Nur durch Zufall hörte ich bei einem deutschen Missionar über Kurzwellenradio vom Fall der Mauer. Bei uns war es schon der 10.11., in Deutschland zehn Zeitzonen weiter westlich noch der 9.11.  Wir haben darauf mit einem warmen Bier angestoßen. Denn einen Kühlschrank gab es auch nicht. Als ich dann im März 1990 nach neun Monaten zurückkam, hatte sich mein Heimatland radikal verändert. Ich kam mir vor wie im falschen Film.  
Ich bin Jahrgang 1962 und mit der Mauer aufgewachsen. Ich kannte nichts anderes als das geteilte Deutschland, den Konflikt zwischen NATO und Warschauer Pakt. Meine Jugend war bestimmt von der Angst vor einem Atomkrieg und Protesten gegen die Nachrüstung.
Ich habe mehr als ein Jahr gebraucht, um wieder anzukommen in Deutschland  und überhaupt zu begreifen, was da geschehen ist und was das bedeutet. In meinem Gedächtnis überwiegt deshalb nicht die Dankbarkeit, sondern das Gefühl: Wie soll man das, was da geschah, eigentlich überhaupt begreifen! Wie kann es innerhalb so kurzer Zeit einen so fundamentalen Wandel des Lebens geben!! Nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Das ist doch Wahnsinn. Und ich finde es heute noch als ein unbegreifliches Wunder, dass das alles friedlich abgegangen ist. Wenn man sich überlegt, was eigentlich auch alles hätte schief gehen können.

III. LV Meyns
Wenn ich die Geschichte vom Zöllner Zachäus höre und wie er Jesus begegnet und wie Jesus zu Zachäus sagt: „Heute muss ich in deinem Hause einkehren“, dann denke ich: Was ist eigentlich damals bei uns eingekehrt in Deutschland? Was hat sich in unserem Land zum Guten gewendet? Wofür dürfen wir Gott von Herzen danken? Und was haben wir daraus gemacht?
Aus dem Abstand von einer Generation betrachtet kann man erst einmal nur von Herzen dankbar sein: für das Ende einer Diktatur und einer Ideologie, die die Freiheit, die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Bürgerinnern und Bürger, ihre wirtschaftlichen Chancen und nicht zuletzt das kirchliche Leben stark einschränkte. Wir können dankbar sein für das Ende der Blockbildung zwischen Ost und West, für die politischen Freiheit der osteuropäischen Länder, für das Ende der ständigen Kriegsangst und die vielen neuen Möglichkeiten im privaten Leben und in unserer Gesellschaft, die sich daraus ergeben haben.
Ich war ja lange in Nordfriesland. Das ist gefühlt von Sachsen-Anhalt genauso weit weg wie Papua-Neuguinea. Von dort ist man schneller in Malmö als in Marienborn. Auch hat sich ja in unserem Alltag durch den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung erst einmal nicht viel verändert. Erst seit ich Bischof in Braunschweig bin, ist mir erst klar geworden, wie stark wir als Westdeutsche abgeschnitten waren von den Stätten deutscher Kultur in Mitteldeutschland: von Wittenberg und Eisenach und allem, wofür die Reformation steht, von Halberstadt und dem Domschatz, von Magdeburg und dem Grab Otto d. Gr., von Weimar und ihren Klassikern und der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, von Dessau und dem Bauhaus, von Halle und August Hermann Francke und all dem, wofür diese Städte und andere Orte kulturell stehen. Dem Braunschweiger Land war durch die Mauer das Hinterland verloren gegangen. Es war kulturell isoliert. Jetzt können wir wieder ohne Mühe die kulturellen Schätze entdecken und für uns aneignen. Da ist in den vergangenen Jahren viel geschehen, gerade auch im Rahmen der Erinnerung an den Beginn der Reformation vor 500 Jahren.
Wir als Kirchen in Niedersachsen profitieren von den Erfahrungen, die Christinnen und Christen in Sachsen-Anhalt in der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus  gemacht haben und im Rahmen der friedlichen Revolution. Ich erlebe diese andere Lebensperspektive als echte Bereicherung für uns und freue mich immer, wenn ich unsere Gemeinden um Blankenburg und Calvörde herum besuchen darf oder wenn ich an Begegnungen gemeinsam mit den Kirchen in Mitteldeutschland, in Anhalt und mit dem Bistum Magdeburg teilnehme.  In Niedersachsen gehören die Kirchen fest zum Inventar, sie sind selbstverständlich Teil des öffentlichen Lebens, so wie das alte Plüschsofa von Großmutter im Wohnzimmer. Manches ist auch arg ritualisiert. Das ist ja schön, wenn man öffentliche Anerkennung findet. Das ist zugleich nicht ungefährlich, weil dann die Gefahr besteht, dass keiner mehr richtig hinhört. Weil verloren geht, was an der biblischen Botschaft auch fremd und verstörend ist und was uns herausruft aus bestehenden Verhältnissen und hinein in den Widerstand.
In der DDR war der Glaube immer in Konkurrenz zum Sozialismus und die Kirchen mussten sich in der Mischung aus Widerstand und Ergebung profilieren. Dadurch gibt es heute keine automatische Anschlussfähigkeit. Man muss immer alles erklären, sich immer wieder neu positionieren, immer wieder neu auf Menschen zugehen, Dinge neu entwickeln, muss verständlich reden und handeln, kann nicht darauf bauen, automatisch wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Ich profitiere stark davon, dass uns keine Mauer mehr trennt, sondern dass wir über die ehemalige Grenze hinweg den Austausch der verschiedenen Perspektiven und Erfahrungen pflegen können.

IV. LB Kramer
Mein Lieblingssatz in der Geschichte vom Zöllner Zachäus ist Jesu Feststellung: „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren!“
Es gibt tatsächlich solche Momente, in denen klar wird: Hier und heute geschieht etwas ganz Besonderes. Was ich gerade erlebe, das ist schier unbegreiflich, das ist etwas rundum Wundervolles. Das wird die Zeit überdauern und auch viele Jahrzehnte später werden wir dafür bleibend dankbar sein.
Heute vor 30 Jahren war solch ein Moment. Damals, im Herbst 1989, ist unserem Volk Heil widerfahren!
Die Menschen lagen sich nach Mauerfall und Grenzöffnung zu recht in den Armen. Einander eigentlich Fremde saßen in diesen Tagen nach dem 9. November zusammen in Wohnstuben und an Küchentischen. Sie erzählten einander von ihrer Herkunft und feierten das Neue.
Und dann ging alles sehr schnell. Gemeinsam machten wir uns daran, ein vereintes Deutschland zu bauen.
30 Jahre später wird uns deutlich, dass aus dem Heil von damals nicht in allem und schon gar nicht automatisch / wie von selbst weiteres Heil erwächst. Von Husum bis nach Blankenburg im Harz ist es nach wie vor sehr weit. Sachsen-Anhalt hat mehr zu bieten als schicke Kulturerbe-Stätten. Während in Niedersachsen es nicht nur traditionelles Christentum gibt. Immer noch sind wir dabei, voneinander zu lernen.
Dabei ist der Ton längst rau geworden. Andere Themen spielen mit rein. Es werden die, die zu uns kommen, zu Sündenböcken gemacht. Wie sehr wünsche ich mir die Solidarität von damals im November und Dezember 1989 auch heute.
Möglicherweise sind wir weniger versöhnt, als wir dachten (Merkel, Januar 2019!). Und die Folgen bekommen jene zu spüren, die unsere deutsche Geschichte erst jetzt kennenlernen?
Zugleich wächst eine Generation heran, für die die Ost-West-Frage so gut wie kein Thema ist. Die jungen Menschen fragen, und das zu recht: Was ist mit dem Fortbestand der Erde? Es ist so viel Zeit ins Land gegangen, und ihr beschäftigt euch nur mit euch selbst, statt dem Klimawandel beizukommen!
Möglicherweise haben wir uns auf unserem je eigenen Maulbeerfeigenbaum bestens eingerichtet, wir haben es uns dort gemütlich gemacht, dachten, es wäre ein gemeinsamer Platz und sahen dabei nicht, dass das gar nicht der Fall war?

Im Glauben geht es wesentlich um die Kunst, vom eigenen Baum wieder herunterzukommen, auf den man geklettert ist. Das nennt sich traditionell „Umkehr“.
Dazu braucht es jemanden, der einem herunterhilft.
Jesus setzt sich an Zachäus‘ Küchentisch und erinnert ihn an seinen Reichtum. Jesus lässt Zachäus neu sehen, was er, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedachte, anderen Menschen geben kann. Jesus eröffnet dem Zöllner eine neue Perspektive auf jene Mauern und Gräben, die zwischen ihm und all den anderen bestanden. Er reizt ihn zu Großherzigkeit.
So geschieht Heil.  

Ich habe manchmal den Eindruck, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger pflegen teils ein seltsames Gottes- und Weltbild. Als müsste Gott all die notwendigen Veränderungen schaffen. Als wären allen die Verantwortlichen in Politik, Kirche und Zivilgesellschaft dafür zuständig, die Zukunft zu sichern.
Aber so funktioniert Gottes Welt nicht. Das Heil in Zachäus Haus hält dann erst vollends Einzug, als er sein Leben vom Kopf wieder auf die Füße stellt, die Hälfte seines Reichtums den Armen gibt und die von ihm Betrogenen entschädigt. Als er das bekannt gibt, sagt Jesus: Heute ist diesem Haus Heil widerfahren.

Dankbarkeit über das Wunder von 1989 ist richtig und wichtig. Aber Dankbarkeit allein reicht nicht.
Es braucht die Begegnung mit dem Anderen. Und heute ist das nicht nur die zwischen Ost und West. Längst geht es auch um die Begegnung mit Menschen aus dem Sudan, aus Syrien oder Afghanistan, aus Polen und Kasachstan.
Es braucht die Erinnerung an den Reichtum, der uns Deutschen gegeben ist, und die Erinnerung daran, was wir anderen alles geben können.
Und wir brauchen ein waches Auge und ein weites Herz, wenn es darum geht, anderen von ihren Bäumen herunter zu helfen.

Darin stärke uns Gott, den heutigen Wahnsinn fröhlich zu widerstehen und im gemeinsamen Haus zu bleiben.

AMEN


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