23.09.2024
Aufmerksam sein
Adele, so hieß meine Mutter. „Setz dich zu mir, Adele“, sagte ihr Vater am Morgen. Die anderen schliefen noch tief und fest. Nur Adele und der Vater saßen am Tisch. Vor dem Vater eine große Tasse mit frisch gemolkener Milch. Dazu eine Scheibe Brot. Dick bestrichen mit Butter.
Adele schaut ihm zu. Sie denkt: Wie gerne hätte ich jetzt etwas Milch aus seiner Tasse. Sie spricht das nicht aus. Sie würde ja später noch mit den anderen frühstücken.
Der Vater spürt nichts von ihrem Wunsch. Er genießt die Stille, er denkt an die Aufgaben, die heute auf ihn warten. Trinkt die Milch, isst sein Butterbrot, gibt seiner Tochter einen Kuss und schon ist er fort. Adele schaut traurig in seine Tasse. Sie ist leer. Nur ein paar Tropfen kann sie sich noch in den Mund schütten.
„Warum hast Du denn nie etwas gesagt?“ Habe ich meine Mutter gefragt. „Er hätte dir ganz bestimmt etwas abgegeben!“
„Aber er hätte es doch spüren können“, sagt sie.
Vor vier Monaten ist in Leipzig unsere Enkeltochter geboren. Malina heißt sie. Und mit zweitem Namen Adele. Wie meine längst verstorbene Mutter.
Ich nehme sie auf meinen Arm. Schaue sie an. Werde ich achtsam sein für das, was sie sich wünscht? Wird sie einmal so beherzt sein, das auszusprechen, was sie braucht?
Ich nehme mir ganz fest vor: Ich möchte aufmerksam bleiben für das, was Malina Adele braucht. Für das, was Menschen um mich benötigen,
Hans-Jürgen Kant von der Evangelischen Kirche in Halle.