30.06.2022
Augen zum Hören
Tim hebt seine Faust an die Stirn, sein Zeigefinger zeigt senkrecht nach oben.
Das stellt eine Pickelhaube dar, die in Deutschland vor 180 Jahren zur Militär-Uniform gehörte. Obwohl heute niemand mehr so eine Pickelhaube trägt – in der Gebärdensprache bedeutet diese Geste Deutschland.
Das wirkt heute natürlich ziemlich altertümlich. Aber viele Gebärden wurden in der Vergangenheit aus dem Alltag entlehnt. Gestik und Mimik ergänzen sie.
Mich fasziniert es, wenn Tim spricht. Eine Sprache für die Augen.
1760 begegnete Abbé de l'Epée zwei Mädchen. Er sprach sie an, aber sie verstanden überhaupt nicht, was dieser Priester von ihnen wollte. Die Mutter erklärte ihm, dass die beiden taubstumm sind. Und dann beobachtete der Geistliche mit großem Staunen, wie die zwei miteinander kommunizierten. Er erkannte die Möglichkeiten und gründete mit all seinem Vermögen die erste Schule für Taubstumme.
Die Gebärdensprache hatte es sehr schwer.
1880 wurde sie sogar als “Affensprache“ verboten. Man band Gehörlosen die Hände zusammen, damit sie nicht gebärden. Sie sollten sich irgendwie bemühen, eine Lautsprache zu sprechen. Verboten wurde die Gebärdensprache allerdings von Hörenden, nicht etwa von den Betroffenen selbst.
Erst seit zwanzig Jahren ist sie in Deutschland als eigenständige Sprache anerkannt.
Ist das nicht verrückt? Eine geniale Erfindung wird behindert von Menschen, die es gar nicht betrifft?
Ein Kinderlied geht so: „Gib uns Ohren, die hören und Augen, die sehn - und ein weites Herz, andre zu verstehen!“
Kindern wie Tim hat Gott Augen statt Ohren zum Hören gegeben. Und auch das ist wunderbar.
Peter Herrfurth, Landesjugendpfarrer in Magdeburg