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24.07.2017
Der Splitter

Für ihn ist das Leben ganz einfach: Schuld sind immer die Anderen. Er kommt mit dem Fahrrad aus dem Büro. Die Ampel ist gerade für ihn auf Rot gesprungen, aber er schafft es noch auf die andere Straßenseite. Ein Autofahrer hupt. Er brüllt etwas Gemeines zurück. Natürlich ist der Autofahrer Schuld; hätte doch noch den kurzen Augenblick warten können. Das regt ihn so auf, dass der ganze Abend gelaufen ist.
Und dann die leere Wohnung. Alle Frauen haben es nicht lange bei ihm ausgehalten. Natürlich nicht seine Schuld.
Ich frage ihn nach seiner Kindheit. Ihm fällt nur ein Satz ein: Der Junge ist schuld. Er war immer für alles verantwortlich: den Streit der Eltern, das gestohlene Rad, am Ende die Trennung.
Aber das ist ja nun vorbei. Die Anderen sind immer schuld.
Was siehst du den Splitter im Auge des Anderen und den Balken in deinem eigenen nicht, sagt Jesus – fast schon ein Sprichwort.
Was aber ist, wenn ich den Balken im eigenen Auge gar nicht sehen kann? Weil ich es nicht gelernt habe. Weil ich Angst davor habe? Weil ich fürchte, dass dann wieder eine Welt untergeht?
Dann muss ich den Balken im eigenen Auge splitterweise herausziehen. Das tut richtig weh. Der Autorfahrer hatte schon grün. Ich muss nicht immer Recht behalten. Ich kann auch Schuld haben.
Am Ende eines langen Gesprächs sage ich ihm: Gott liebt dich. Und keine Welt geht unter, was immer du tust. Fühlt sich komisch an, sagt er. Stimmt aber, sage ich. Macht den Balken im eigenen Auge kleiner, sagt er. So geht Glaube, sage ich.
Aus Dessau grüßt
Joachim Liebig


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