25.10.2022
Hier soll es sein
»Hier soll es sein.« Dessen ist er sich sicher. Genau hier. An dieser Grabstelle unter der großen Eiche, vor dem neu angelegten Beet. Zwischen Ralf und Anna-Lena. Er könnte sein Vater sein; sie seine Tochter.
Wenn es so weit ist, linsen vielleicht schon die Schneeglöckchen durch den kalten Boden, bevor sich im Laufe des Jahres dann die ganze Blütenpracht entfaltet.
Wie er hier and diesen Ort gefunden hat? Das weiß er selber nicht mehr so genau. Er hat viel nachdenken müssen in den vergangenen Monaten. Hat sich damit abfinden müssen, dass es schon sehr bald so weit ist. Viel schneller, als er jemals gedacht hatte. Denn er ist krank. Sehr sogar, sagen die Ärzte.
Gedankenversunken hat er sich ausgerechnet auf den Friedhof verlaufen, und dann fand er sich irgendwann hier. An diesem wunderschönen Flecken Erde. Auch das hätte er nie gedacht: dass es hier so schön ist. Im Trubel der Stadt diese Ruhe, dieser Frieden. Und dieses Leben. Ja, der Friedhof ist ein Ort der Lebenden. Das spürt er an diesem goldenen Oktobermorgen, so wie er es mit jedem Atemzug spürt: das volle Leben.
Eine Frau kommt ihm entgegengejoggt. Sie grüßt. Er lächelt vertraut zurück. Sie begegnen sich hier nicht das erste Mal. Da hinten auf der Bank kichern zwei ältere Damen. Vielleicht haben sie gerade ihre Männer besucht. Ein schöner Anblick, wie sie so kindlich miteinander tuscheln.
Ach, ja! Hier soll es sein. Hier wird er liegen, wenn er nicht mehr ist. Hier wird sein Grab sein. Und das zu wissen, es tut einfach gut.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie heute das Leben in vollen Zügen genießen können.
Conrad Krannich aus Halle
