31.10.2017
Luther und die Avantgarde
Ich war im Gefängnis. Nein, ich habe nichts angestellt. Ich war zur Ausstellung im Alten Gefängnis in Wittenberg. Künstler aus der ganzen Welt haben die Zellen gestaltet. „Luther und die Avantgarde“ heißt die Ausstellung. Verrückte Skulpturen und Installationen gibt es da.
In einer Zelle hängen lauter Fotos und gemalte Bilder:
Luther; ein Papstthron; ein dicker Mann am Tisch mit üppigen Speisen und andere Darstellungen mehr. Ich gehe an den Bildern vorbei, tiefer in die Zelle hinein. Ups, was ist das? Einige Bilder zeigen plötzlich etwas ganz Anderes. Statt Luther sehe ich zwei Männer, die sich küssen. Statt Papstthron einen Folterstuhl. Statt des Fettwanstes am Tisch eine Massentierhaltungsanlage. Ich mache einen Schritt zurück. Ah! Da sind die alten Bilder wieder da. Das sind Kippbilder. Je nachdem, von wo ich schaue, sehe ich etwas Anderes. Das macht Spaß. Schritt vor - Schritt zurück. Schritt vor - Schritt zurück...
Der Blickwinkel macht den Unterschied. Ja, die Dinge haben meist noch eine andere Seite:
Thron und Folterstuhl: Die andere Seite der Macht kann Gewalt sein. Oder das nächste Bild: Die Massentierhaltung ist die andere Seite unserer üppig gefüllten Tische. Nur das sehen wir meist nicht.
Aber wenn ich mich bewege, also meinen Standpunkt ändere, bekomme ich eine neue Perspektive. Ich schaue anders und neu. Da gucke ich kritisch auf die Mächtigen oder frage wo mein Essen eigentlich herkommt. Das ging Luther ganz ähnlich, als er mit kritischen Augen auf die Kirche und in die Bibel schaute und dabei erschrak. Und es geht uns so, wenn wir auf unsere Zeit und hinter die Dinge schauen.
Luther hat sich nicht mit dem Schauen begnügt. Er hat die Missstände gründlich verändert.
Hingucken und verändern. Das ist Reformation.
Peter Herrfurth, Landesjugendpfarrer in Magdeburg
