15.04.2022
Mitfühlen
Hanna, ein waches Mädchen mit hellblauen Augen ist fünf Jahre alt. Immer, wenn dies Kind einer Bekannten mich besucht, geht sie auf Entdeckungsreise in meiner Wohnung und freut sich darüber, dass sie bei mir Dinge findet, die sie von Zuhause nicht kennt. Vor einiger Zeit kam sie in mein Arbeitszimmer gerannt und hielt ein barockes Messingkreuz mit einem verstorbenen Jesus in der Hand und fragte: „Warum ist der tot? Hat er was Böses getan?“ Ich nahm sie auf meinen Schoß. Wir legten das Kruzifix auf einen kleinen Tisch, neben eine Kerze, die ich anzündete. „Das ist Jesus“, sagte ich. „Er war ein guter und liebevoller Mensch. Er kümmerte sich um Arme und Kranke und vor allem auch um Kinder. Und er erzählte von Gott. Viele Menschen hörten ihm zu. Aber manche hassten ihn, weil er so anders dachte als sie. Und der Hass wurde so stark, dass sie Jesus eines Tages an das Kreuz gebracht haben und er dort starb“.
Hanna und ich schauten auf das Kreuz. Und wir sahen in das warme flackernde Licht der Kerze. Stille. Warum hat ihn niemand gerettet, fragte Hanna nach einer Weile. Hatte er keine Freunde? Hatte er schon, antwortete ich. Aber die hatten Angst, selbst bestraft zu werden. So starb Jesus ziemlich allein. Aber Gott war bei ihm. Das hat er aber erst zu Ostern richtig gemerkt.
Ich sah Tränen in Hannas Gesicht. Und nahm sie in den Arm. Dann rutschte sie von meinem Schoß und lief mit dem Kreuz davon. Als ich abends durch die Wohnung ging, fand ich das Kreuz mit dem einsamen Jesus nicht mehr an der Wand. Es lag in ihrem Puppenwagen, neben der Lieblingspuppe. Zugedeckt. Geborgen.
Einen Tag mit viel Mitgefühl wünscht auch ihnen Pfarrerin Gabriele Herbst aus Magdeburg