09.01.2024
Morgentee
Das heiße Wasser fließt sprudelt in meinen Becher. Ich hänge einen Teebeutel hinein. Der Faden liegt über dem Rand, das Etikett baumelt. Dort wo sonst steht, wie lange der Tee ziehen sollte, lese ich:
„Entscheide dich im Zweifel für Mitgefühl!“
Ja klar: Glücks-Keks-Weisheit.
Obwohl: „Im Zweifel?“
Neulich abend war ich im Zweifel. Ich war unterwegs in der Stadt. Ein Mann hockt vor mir, auf dem nassen Fußboden. Auf Knien. Im Coffee-to-go-Becher klimpern ein paar Münzen.
Wer weiß? Das macht der doch professionell: Leute anbetteln und zuhause einen großen Fernseher in der Bude. Nein, ich hab‘ nichts reingetan.
Aber weiß ich, was daheim bei ihm los ist? Ob es ein Daheim für ihn überhaupt gibt?
„Entscheide dich im Zweifel für Mitgefühl“.
Oder gestern, meine erste Bahnfahrt in diesem Jahr. Und klar, die Bahn ist wieder zu spät. Hauptsache, die Chefs kassieren dicke Boni und die Lokführer streiken.
Meine Umsteige-Minuten schrumpfen drastisch zusammen. Ich schnapp mir die Tasche, um als erster an der Abteiltür zu sein. Aber da steht schon wer: eine Frau mit Kinderwagen.
Wenn ich jetzt massiv gestresst gucke, dann fragt sie mich bestimmt nicht, ob ich ihr beim Aussteigen behilflich sein könnte.
„Entscheide dich im Zweifel für Mitgefühl“
Ok, Teebeutel. Du hast mich erwischt. Aber jetzt hast du genug gezogen.
Und wo ich schon mal dabei bin: Ich sollte mir die Adressen von Putin, Orban und Erdogan raussuchen und ihnen ein paar von diesen Teebeuteln schicken. Natürlich mit Etikett. Auf russisch, ungarisch und türkisch: „Entscheide dich im Zweifel für Mitgefühl!“
Peter Herrfurth, Landesjugendpfarrer in Magdeburg