01.05.2024
Paul geht los
Paul geht zum ersten Mal auf eine Demo. Obwohl, das stimmt nicht ganz. Früher, in der DDR musste er pflichtmäßig am 1. Mai demonstrieren. Dort wurde aber keine Haltung gezeigt, sondern man ist eben mitgelaufen, weil der Parteisekretär im Betrieb einen gedrängt hat. Das ist zum Glück längst vorbei.
Aber heute morgen hat sich Paul eine Holzlatte in seiner Werkstatt rausgesucht. Er hat auch eine Pappe gefunden. Mit einem Stift hat er sie beschriftet.
Dann hat er die Pappe an die Latte getackert. So in der Garage werkeln, dass kann er gut.
Aber dann wurde es spannend für ihn. Mit dem Schild raus auf die Straße gehen. Ob die Nachbarn komisch gucken? Paul ist unsicher. Aber er geht los. Es muss sein.
Die Straße runter, zweimal abbiegen und dann ist er auf dem Markt. Dort stehen schon eine Menge Leute. Sie haben Plakate dabei. Viele junge Leute sieht er neben sich. Aber auch Ältere. Einige kennt er sogar. Ein Pärchen nickt ihm zu, die wohnen schräg gegenüber.
Familien mit Kindern sieht er. Und eine ganze Gruppe von Frauen in seinem Alter. Das müssen die „Omas gegen Rechts“ sein. Er hat ein Bild von ihnen in der Zeitung gesehen.
Paul denkt an seinen Enkel Timm. Der hatte letzten Sonntag Konfirmation. Timm bekam eine Urkunde mit einem Konfirmationsspruch. Einen Satz aus der Bibel: „Seid Täter des Worts, nicht Hörer allein.“
„Guter Spruch!“ - das spürt Paul. Und da hat er verstanden: Man darf nicht stumm zusehen, wenn die jetzt wieder an die Macht wollen. Sowas hatten wir schon. Da wurden Menschen verfolgt und getötet, weil sie anders glauben, denken, aussehen...
Darum demonstriert Paul. Für seinen Enkel, damit Timm sicher aufwachsen kann in einem Land, wo man sich respektiert. Wo man miteinander lebt statt gegeneinander.
Ganz hoch hält er sein Schild. Denn alle sollen lesen, was er geschrieben hat: „Nie wieder ist jetzt!“
Peter Herrfurth, Landesjugendpfarrer in Magdeburg