04.07.2024
Wir haben die Wahl
Abdul gehört zu unserem Freundeskreis. Er ist 22 und lernt Krankenpfleger.
Die Ergebnisse der Europa- und Kommunalwahl hatte er im Fernsehen verfolgt und schon bei den ersten Hochrechnungen für Sachsen-Anhalt hat ihn die blaue Säule wie ein Hammer getroffen.
Mit noch mehr Unbehagen als sonst ist er am Montagmorgen in die Berufsschule gegangen. Ob die Wahlen in der Klasse Thema sein würden?
In der Pause ruft eine triumphierend in seine Richtung: „Wir haben gewonnen! Und wir werden noch mehr gewinnen, und dann schmeißen wir die Viecher raus!“
Mit den „Viechern“ ist er gemeint. Er und alle, die schwarze Haare und dunklere Haut haben, oder Deutsch mit Akzent sprechen. Er hört so was permanent von seiner Mitschülerin. Es trifft ihn jedes Mal wie ein Messerstich. Und keiner in der Klasse sagt etwas dagegen.
Das hat ihn verändert. Er ist misstrauischer geworden ist, zuweilen depressiv.
Und mich, mich macht das alles so wütend. Dass sich Leute so widerlich boshaft gebärden können und damit durchkommen.
In den Praxiswochen im Krankenhaus versorgt Abdul die Patienten, hört zu, streichelt mal die Hand. Dort bekommt er viel Dankbarkeit zurück. Die Arbeit macht ihm Freude und die Kolleginnen sind freundlich und schätzen ihn sehr.
Aber eins ist sicher: Er wird gehen. Weg aus dem Osten, sobald er kann.
Alle im Freundeskreis können das verstehen. Zu viele dumm-dreiste Idioten hier.
Und ich denke: So kann es doch nicht sein! Es kann doch nicht sein, dass solche Leute hier die Oberhand gewinnen. Ich will das nicht.
Ich will, dass Menschen hier gern leben und arbeiten. Dass wir gemeinsam dafür sorgen, uns das Leben zu erleichtern. Dass wir uns füreinander einsetzen.
Jeden Tag bitte ich Gott darum, dass wir das hinbekommen.
Pfarrerin Christina Lang, Ev. Kirchengemeinde Naumburg